Jetzt haben die Geschworenen das Wort
Nach den Plädoyers im Prozess um den Tod von George Floyd beginnt in den USA das Warten auf das Urteil
●
WASHINGTON - Zwölf Geschworene müssen entscheiden, ob sie den Polizisten Derek Chauvin für schuldig befinden. Und wenn ja, in welchen Punkten. Nach den Schlussplädoyers von Anklage und Verteidigung im Prozess um den Tod des schwarzen US-Bürgers George Floyd in Minneapolis ziehen sich die Geschworenen zu Beratungen in ein Hotel zurück, wo sie, zumindest in der Theorie, keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Dann beginnt das Warten. Wie lange es dauert, vermag niemand zu sagen.
Gut möglich, dass die Runde schon nach wenigen Tagen, vielleicht sogar nach wenigen Stunden, zu einem Urteil gelangt. Denkbar ist aber auch, dass sie Wochen braucht, um sich zu einigen. Oder aber scheitert bei dem Versuch, sich auf eine gemeinsame Sicht zu verständigen. Für einen Freispruch reicht es, wenn nur einer der Meinung ist, dass begründete Zweifel an Chauvins Schuld bestehen.
Kein Wunder, dass die Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Mehr als dreitausend Soldaten der Nationalgarde sind in Minneapolis im Einsatz, um öffentliche Gebäude und Geschäfte in der Metropole des Bundesstaates Minnesota zu bewachen. Die Operation „Safety Net“soll verhindern, dass sich wiederholt, was sich nach der Tötung George Floyds abgespielt hatte. Damals ging eine Polizeiwache in Flammen auf, während Trittbrettfahrer der Proteste reihenweise Läden plünderten. Der Schaden wurde auf 350 Millionen Dollar geschätzt. Tom Walz, der Gouverneur des Bundesstaats Minnesota,
der diesmal präventiv die Garde mobilisierte, verteidigt seinen Entschluss, obwohl Kritiker einwenden, dass Minneapolis nunmehr an eine Stadt im Krieg denken lasse. „Es geht darum, die richtige Balance zu finden“, sagt der Demokrat. „Wir haben es mit einer Gemeinschaft im Trauma zu tun. Wir müssen den Leuten die Möglichkeit geben, friedlich zu demonstrieren.“Andererseits müsse der Schutz vor Zerstörung gewährleistet sein.
Die Anklage lautet auf Mord zweiten und dritten Grades sowie auf Totschlag. Mord zweiten Grades, nach den Statuten Minnesotas ein Angriff, der mit dem nicht beabsichtigten Tod des Angegriffenen endet, kann mit bis zu 40 Jahren Gefängnis bestraft werden. Um es zu belegen, hat die Staatsanwaltschaft in den vergangenen drei Wochen 38 Zeugen aufgerufen. Passanten, die zum Zuschauen verurteilt waren, als Chauvin sein Knie neun Minuten und 29 Sekunden lang in den Nacken Floyds drückte, sprachen unter Tränen von Schuldgefühlen, weil sie nicht eingreifen konnten. Vergeblich hatten sie den Officer gedrängt, endlich abzulassen von dem wehrlos am Boden liegenden Mann. Sie habe sie spüren können, die Todesangst George Floyds, sagte Darnella Frazier, damals noch Schülerin, die das Geschehen mit ihrer Handykamera filmte. „Es schien, als ahnte er, dass es vorbei war.“
Kommandiert von Chauvin, dem Dienstältesten, hatten vier Beamte den 46-jährigen Afroamerikaner aus dem Streifenwagen gezerrt, in dem er zur nächsten Polizeistation gebracht werden sollte, nachdem er im Lebensmittelgeschäft Cup Foods mit einem gefälschten Zwanzig-DollarSchein für Zigaretten bezahlt und der Manager des Ladens den Notruf gewählt hatte. Floyd wehrte sich, bis er, die Hände auf dem Rücken gefesselt, das Gesicht nach unten, auf dem Straßenasphalt lag. In dem Moment, in dem er keinen Widerstand mehr leistete, hätte Chauvin das Knie von seinem Hals nehmen müssen, betonte Medaria Arradondo, der Polizeichef von Minneapolis. Was er getan habe, entspreche weder der Ausbildung noch den ethischen Werten seines Police Departments. Es war ein denkwürdiger Augenblick, hat es in den USA doch absoluten Seltenheitswert, dass Polizisten gegen Polizisten aussagen. Die Regel ist, was Kommentatoren – nach der Farbe der Uniformen – die blaue Mauer des Schweigens nennen.
Ebenso eindeutig, wie sich Arradondo von dem Angeklagten distanzierte, kam Martin Tobin, ein angesehener Lungenarzt, zu dem Schluss, dass Floyd an Sauerstoffmangel starb. Die Bauchlage auf hartem Untergrund, die wegen der Handschellen auf dem Rücken verdrehten Arme, die Tatsache, dass drei Polizisten auf ihm knieten – das alles habe ihm die Luft zum Atmen genommen. Die Drogen Fentanyl und Metamphetamin, die man in seinem Kreislauf feststellte, hätten dabei keine Rolle gespielt.
Dem widersprach ein pensionierter Gerichtsmediziner, auf den sich wiederum die Verteidigung beruft. David Fowler führte den Tod Floyds auf eine Herzkrankheit zurück. Drogen seien ebenso ein Faktor gewesen wie die Abgase des Polizeiautos, die er einatmete und die womöglich eine Kohlenmonoxidvergiftung zur Folge gehabt hätten. Wem die Jury folgt, Tobin oder Fowler, dürfte der entscheidende Punkt sein.