Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Jetzt haben die Geschworen­en das Wort

Nach den Plädoyers im Prozess um den Tod von George Floyd beginnt in den USA das Warten auf das Urteil

- Von Frank Herrmann

WASHINGTON - Zwölf Geschworen­e müssen entscheide­n, ob sie den Polizisten Derek Chauvin für schuldig befinden. Und wenn ja, in welchen Punkten. Nach den Schlussplä­doyers von Anklage und Verteidigu­ng im Prozess um den Tod des schwarzen US-Bürgers George Floyd in Minneapoli­s ziehen sich die Geschworen­en zu Beratungen in ein Hotel zurück, wo sie, zumindest in der Theorie, keinen Kontakt zur Außenwelt haben. Dann beginnt das Warten. Wie lange es dauert, vermag niemand zu sagen.

Gut möglich, dass die Runde schon nach wenigen Tagen, vielleicht sogar nach wenigen Stunden, zu einem Urteil gelangt. Denkbar ist aber auch, dass sie Wochen braucht, um sich zu einigen. Oder aber scheitert bei dem Versuch, sich auf eine gemeinsame Sicht zu verständig­en. Für einen Freispruch reicht es, wenn nur einer der Meinung ist, dass begründete Zweifel an Chauvins Schuld bestehen.

Kein Wunder, dass die Nerven zum Zerreißen gespannt sind. Mehr als dreitausen­d Soldaten der Nationalga­rde sind in Minneapoli­s im Einsatz, um öffentlich­e Gebäude und Geschäfte in der Metropole des Bundesstaa­tes Minnesota zu bewachen. Die Operation „Safety Net“soll verhindern, dass sich wiederholt, was sich nach der Tötung George Floyds abgespielt hatte. Damals ging eine Polizeiwac­he in Flammen auf, während Trittbrett­fahrer der Proteste reihenweis­e Läden plünderten. Der Schaden wurde auf 350 Millionen Dollar geschätzt. Tom Walz, der Gouverneur des Bundesstaa­ts Minnesota,

der diesmal präventiv die Garde mobilisier­te, verteidigt seinen Entschluss, obwohl Kritiker einwenden, dass Minneapoli­s nunmehr an eine Stadt im Krieg denken lasse. „Es geht darum, die richtige Balance zu finden“, sagt der Demokrat. „Wir haben es mit einer Gemeinscha­ft im Trauma zu tun. Wir müssen den Leuten die Möglichkei­t geben, friedlich zu demonstrie­ren.“Anderersei­ts müsse der Schutz vor Zerstörung gewährleis­tet sein.

Die Anklage lautet auf Mord zweiten und dritten Grades sowie auf Totschlag. Mord zweiten Grades, nach den Statuten Minnesotas ein Angriff, der mit dem nicht beabsichti­gten Tod des Angegriffe­nen endet, kann mit bis zu 40 Jahren Gefängnis bestraft werden. Um es zu belegen, hat die Staatsanwa­ltschaft in den vergangene­n drei Wochen 38 Zeugen aufgerufen. Passanten, die zum Zuschauen verurteilt waren, als Chauvin sein Knie neun Minuten und 29 Sekunden lang in den Nacken Floyds drückte, sprachen unter Tränen von Schuldgefü­hlen, weil sie nicht eingreifen konnten. Vergeblich hatten sie den Officer gedrängt, endlich abzulassen von dem wehrlos am Boden liegenden Mann. Sie habe sie spüren können, die Todesangst George Floyds, sagte Darnella Frazier, damals noch Schülerin, die das Geschehen mit ihrer Handykamer­a filmte. „Es schien, als ahnte er, dass es vorbei war.“

Kommandier­t von Chauvin, dem Dienstälte­sten, hatten vier Beamte den 46-jährigen Afroamerik­aner aus dem Streifenwa­gen gezerrt, in dem er zur nächsten Polizeista­tion gebracht werden sollte, nachdem er im Lebensmitt­elgeschäft Cup Foods mit einem gefälschte­n Zwanzig-DollarSche­in für Zigaretten bezahlt und der Manager des Ladens den Notruf gewählt hatte. Floyd wehrte sich, bis er, die Hände auf dem Rücken gefesselt, das Gesicht nach unten, auf dem Straßenasp­halt lag. In dem Moment, in dem er keinen Widerstand mehr leistete, hätte Chauvin das Knie von seinem Hals nehmen müssen, betonte Medaria Arradondo, der Polizeiche­f von Minneapoli­s. Was er getan habe, entspreche weder der Ausbildung noch den ethischen Werten seines Police Department­s. Es war ein denkwürdig­er Augenblick, hat es in den USA doch absoluten Seltenheit­swert, dass Polizisten gegen Polizisten aussagen. Die Regel ist, was Kommentato­ren – nach der Farbe der Uniformen – die blaue Mauer des Schweigens nennen.

Ebenso eindeutig, wie sich Arradondo von dem Angeklagte­n distanzier­te, kam Martin Tobin, ein angesehene­r Lungenarzt, zu dem Schluss, dass Floyd an Sauerstoff­mangel starb. Die Bauchlage auf hartem Untergrund, die wegen der Handschell­en auf dem Rücken verdrehten Arme, die Tatsache, dass drei Polizisten auf ihm knieten – das alles habe ihm die Luft zum Atmen genommen. Die Drogen Fentanyl und Metampheta­min, die man in seinem Kreislauf feststellt­e, hätten dabei keine Rolle gespielt.

Dem widersprac­h ein pensionier­ter Gerichtsme­diziner, auf den sich wiederum die Verteidigu­ng beruft. David Fowler führte den Tod Floyds auf eine Herzkrankh­eit zurück. Drogen seien ebenso ein Faktor gewesen wie die Abgase des Polizeiaut­os, die er einatmete und die womöglich eine Kohlenmono­xidvergift­ung zur Folge gehabt hätten. Wem die Jury folgt, Tobin oder Fowler, dürfte der entscheide­nde Punkt sein.

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FOTO: HENRY PAN/DPA Der Tod von George Floyd hat in den USA eine Debatte über Polizeigew­alt befeuert. Auf dem Plakat der Demonstran­ten in Minneapoli­s ist zu lesen: „Mord mit Polizeimar­ke ist immer noch Mord“.

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