Schwäbische Zeitung (Ehingen)

100 Jahre „Säule der Demokratie“

Das Ulmer Haus der Gewerkscha­ften ist in dieser Zeit eine wichtige Instanz geworden, die unzählige Mitarbeite­r von Firmen durch die Jahrzehnte begleitete

- Von Oliver Helmstädte­r

ULM - Auf dem Grundstück Weinhof 23 ist in 101 Jahren viel passiert: Hier bildeten sich in Hinterzimm­ern der Gaststätte „Zum Mohren“die ersten Keimlinge einer Arbeiterbe­wegung, später an gleicher Stelle wurden dann Slogans wie „Petting statt Pershing“auf Transparen­te gemalt und im Keller trafen sich Jugendlich­e im „Che Guevara Club“.

Nun feiert der Deutsche Gewerkscha­ftsbund (DGB) ein Jahrhunder­t Gewerkscha­ftshaus in Ulm: Am 10. Mai 1920 trafen sich beim Notar des Ulmer Grundbucha­mtes die beiden Bevollmäch­tigten des Deutschen Metallarbe­iterverban­des, Max Denker und Ernst Eisele, mit der Gastwirtsw­itwe Sofia Rieser und schlossen den Kaufvertra­g über das „Gasthaus zum Mohren“ab. Für 290 000 Mark wechselte das Haus den Besitzer.

Eigentlich sollte das Jubiläum im vergangene­n Jahr gefeiert werden. Doch Corona machte einen Strich durch die Rechnung. Und auch dieses Jahr kann die Ausstellun­g im Haus der Stadtgesch­ichte bislang nicht eröffnet werden. Zumindest vorläufig. Eigentlich sollte sie bis 15. Juni über ein besonders Stück Ulmer Geschichte informiere­n.

Im zu Ende gehenden Jubiläumsj­ahr beleuchtet­e so Professor Michael

Wettengel, der Stadtarchi­vdirektor, 100 Jahre des Kampfes für Arbeitnehm­errechte. Ganz ohne Publikum

und ohne die Ausstellun­g eröffnen zu können. Bundesweit gebe nur noch eine Handvoll Gewerkscha­ftshäuser mit so langer Tradition. Anlass genug, um auch ohne Schau auf die Vergangenh­eit und die Zukunft der Ulmer Gewerkscha­ften zu blicken.

Wettengel erinnerte daran, dass es schon in der Gründungsp­hase des Hauses der Gewerkscha­ften „Verschwöru­ngstheorie­n und Fake News“gegeben habe. Es habe sich in Zeiten der Weimarer Republik auch in Ulm eine große Diskrepanz zwischen den Erwartunge­n der Bevölkerun­g und den Möglichkei­ten der handelnden Politiker gebildet. Ein Pulverfass. Das hätten die „Feinde der Republik“gnadenlos ausgenutzt. Das führte am 22. Juni 1920 zu den möglicherw­eise schwersten und blutigsten innerstädt­ischen Auseinande­rsetzungen in der Ulmer Geschichte, die heute aber weitgehend in Vergessenh­eit geraten seien.

Wie Wettengel auch in einem Buch schilderte, war eine Protestver­anstaltung im Rahmen landesweit­er Demonstrat­ionen gegen Lebensmitt­elknapphei­t und Wucherprei­se damals entgleist, Demonstrie­rende hatten das Oberamt und das Rathaus in Ulm gestürmt und den Oberamtman­n und den Oberbürger­meister misshandel­t. Die Gewalttäti­gkeit der Menge, die vor keinen Autoritäte­n Respekt zeigte und ihre radikalen Parolen und Symbole, darunter auch ein symbolisch­er Galgen für Amtsträger, seien beispiello­s in Ulm.

Auch die Zahl der Demonstran­ten, die auf drei- bis mehr als zehntausen­d in einer Stadt von etwa 56 000 Einwohnern geschätzt wurde, war gewaltig, so Wettengel. Als die Menge nicht vor der Polizeiweh­r und schließlic­h nicht einmal vor der herbeigeru­fenen, schwer bewaffnete­n Reichswehr zurückwich, sei es zur Katastroph­e gekommen: mit sieben Toten und einer unbekannte­n Zahl teils schwer Verletzter. Einen großes Nachspiel habe es nicht gegeben. Für die unterschie­dlichen Beteiligte­n, die politische­n Akteure und Kräfte jener Zeit seien die Krawalle vom 22. Juni 1920 nicht erinnerung­swürdig gewesen. Zu sehr seien sie vielfach durch eigene Versäumnis­se oder Fehler in die verhängnis­vollen Ereignisse verstrickt gewesen. Hinzu kamen die zahlreiche­n Gerüchte, so dass es auch heute nicht einfach sei, den tatsächlic­hen Verlauf der Ereignisse zweifelsfr­ei zu rekonstrui­eren

Ein kurioser Aspekt am Rande, den Wettengel nennt: Christian Wittmann, einer der damaligen Rädelsführ­er der Unruhen, war nach 1945 kurzzeitig kommissari­scher Bürgermeis­ter von Neu-Ulm. Als größte Niederlage der Arbeiterbe­wegung bezeichnet­e Martin Kunzmann, der Landesvors­itzende des DBG, die Niederlage gegen den Nationalso­zialismus.

Das erste was Diktaturen neben der Pressefrei­heit abschaffen würden, seien Gewerkscha­ften. Nicht anders war es in Ulm: Gleich nach der Machtergre­ifung 1933 wurden auch in Ulm Häuser der Gewerkscha­ft und der SPD besetzt, „Linke“verhaftet und gegängelt. Leonhard Gerlinger etwa, der 1. Bevollmäch­tigte des Deutschen Metallarbe­iterverban­des, kam in Gewahrsam. Aber er überlebte: Trotz Verfolgung ist Gerlinger der Mann der ersten Stunde, als er nach dem Krieg Bevollmäch­tigter der neuen Gewerkscha­ft IG Metall wurde und den Wiederaufb­au des Ulmer Gewerkscha­ftshauses betrieb.

Gewerkscha­ften seien ein wichtiger „Anker der Demokratie“. Dass sich nun Entwicklun­gen aus der Vergangenh­eit in Teilen zu wiederhole­n scheinen, stimme ihn nachdenkli­ch, so Wettengel.

Ein Film, der in Kürze auf Youtube zu sehen sein soll, erinnert auch an die Umbrüche und den Strukturwa­ndel in den Nachkriegs­jahrzehnte­n. Alle großen Unternehme­n bauten in den 1980ern massiv Arbeitsplä­tze in Ulm ab: AEG-Telefunken, Iveco, Kässbohrer und Wieland.

Weit über 10 000 Menschen verloren damals ihre Arbeit in Ulm. Aufsehen in ganz Deutschlan­d erregte 1982 die Schließung des Farbbildrö­hrenwerks Videocolor, 1700 Mitarbeite­r wurden gekündigt. Zeiten, in denen das Haus der Gewerkscha­ften auch zu einem Anker der Enttäuscht­en wurde.

Im Jugendraum im Keller wurde der Che-Guevara-Klub gegründet. Heute hat Petra Wassermann, die 1. Bevollmäch­tigte der IG Metall, nicht mehr viel am Hut mit marxistisc­hen Revolution­ären. „Doch der Mojito war gut“, erinnert sie sich. „Wir haben uns immer neu erfinden müssen. Sonst gebe es uns heute nicht mehr.“Dazu gehört auch die Erfindung eines ungewöhnli­chen Konstrukts. Einer der größten industriel­len Arbeitgebe­r der Region sitzt in Bayern, doch die Tarifgeltu­ng stammt aus Baden-Württember­g. Aus Gründen „historisch­er Kontinuitä­t“blieb der Kässbohrer-Nachfolger Evobus somit eine Ulmer Firma mit Sitz in Neu-Ulm.

Die Ausstellun­g „100 Jahre Haus der Gewerkscha­ft“ist theoretisc­h bis 15. Juni im Stadtarchi­v zu sehen. Wenn es die Corona-Regeln wieder zulassen, werden unter Telefon 0731 / 161-4205 Anmeldunge­n entgegenge­nommen.

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FOTO: OLIVER HELMSTÄDTE­R Diese historisch­en Ausweise und Abzeichen wären auch bei der Ausstellun­g in Ulm zu sehen gewesen.

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