100 Jahre „Säule der Demokratie“
Das Ulmer Haus der Gewerkschaften ist in dieser Zeit eine wichtige Instanz geworden, die unzählige Mitarbeiter von Firmen durch die Jahrzehnte begleitete
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ULM - Auf dem Grundstück Weinhof 23 ist in 101 Jahren viel passiert: Hier bildeten sich in Hinterzimmern der Gaststätte „Zum Mohren“die ersten Keimlinge einer Arbeiterbewegung, später an gleicher Stelle wurden dann Slogans wie „Petting statt Pershing“auf Transparente gemalt und im Keller trafen sich Jugendliche im „Che Guevara Club“.
Nun feiert der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) ein Jahrhundert Gewerkschaftshaus in Ulm: Am 10. Mai 1920 trafen sich beim Notar des Ulmer Grundbuchamtes die beiden Bevollmächtigten des Deutschen Metallarbeiterverbandes, Max Denker und Ernst Eisele, mit der Gastwirtswitwe Sofia Rieser und schlossen den Kaufvertrag über das „Gasthaus zum Mohren“ab. Für 290 000 Mark wechselte das Haus den Besitzer.
Eigentlich sollte das Jubiläum im vergangenen Jahr gefeiert werden. Doch Corona machte einen Strich durch die Rechnung. Und auch dieses Jahr kann die Ausstellung im Haus der Stadtgeschichte bislang nicht eröffnet werden. Zumindest vorläufig. Eigentlich sollte sie bis 15. Juni über ein besonders Stück Ulmer Geschichte informieren.
Im zu Ende gehenden Jubiläumsjahr beleuchtete so Professor Michael
Wettengel, der Stadtarchivdirektor, 100 Jahre des Kampfes für Arbeitnehmerrechte. Ganz ohne Publikum
und ohne die Ausstellung eröffnen zu können. Bundesweit gebe nur noch eine Handvoll Gewerkschaftshäuser mit so langer Tradition. Anlass genug, um auch ohne Schau auf die Vergangenheit und die Zukunft der Ulmer Gewerkschaften zu blicken.
Wettengel erinnerte daran, dass es schon in der Gründungsphase des Hauses der Gewerkschaften „Verschwörungstheorien und Fake News“gegeben habe. Es habe sich in Zeiten der Weimarer Republik auch in Ulm eine große Diskrepanz zwischen den Erwartungen der Bevölkerung und den Möglichkeiten der handelnden Politiker gebildet. Ein Pulverfass. Das hätten die „Feinde der Republik“gnadenlos ausgenutzt. Das führte am 22. Juni 1920 zu den möglicherweise schwersten und blutigsten innerstädtischen Auseinandersetzungen in der Ulmer Geschichte, die heute aber weitgehend in Vergessenheit geraten seien.
Wie Wettengel auch in einem Buch schilderte, war eine Protestveranstaltung im Rahmen landesweiter Demonstrationen gegen Lebensmittelknappheit und Wucherpreise damals entgleist, Demonstrierende hatten das Oberamt und das Rathaus in Ulm gestürmt und den Oberamtmann und den Oberbürgermeister misshandelt. Die Gewalttätigkeit der Menge, die vor keinen Autoritäten Respekt zeigte und ihre radikalen Parolen und Symbole, darunter auch ein symbolischer Galgen für Amtsträger, seien beispiellos in Ulm.
Auch die Zahl der Demonstranten, die auf drei- bis mehr als zehntausend in einer Stadt von etwa 56 000 Einwohnern geschätzt wurde, war gewaltig, so Wettengel. Als die Menge nicht vor der Polizeiwehr und schließlich nicht einmal vor der herbeigerufenen, schwer bewaffneten Reichswehr zurückwich, sei es zur Katastrophe gekommen: mit sieben Toten und einer unbekannten Zahl teils schwer Verletzter. Einen großes Nachspiel habe es nicht gegeben. Für die unterschiedlichen Beteiligten, die politischen Akteure und Kräfte jener Zeit seien die Krawalle vom 22. Juni 1920 nicht erinnerungswürdig gewesen. Zu sehr seien sie vielfach durch eigene Versäumnisse oder Fehler in die verhängnisvollen Ereignisse verstrickt gewesen. Hinzu kamen die zahlreichen Gerüchte, so dass es auch heute nicht einfach sei, den tatsächlichen Verlauf der Ereignisse zweifelsfrei zu rekonstruieren
Ein kurioser Aspekt am Rande, den Wettengel nennt: Christian Wittmann, einer der damaligen Rädelsführer der Unruhen, war nach 1945 kurzzeitig kommissarischer Bürgermeister von Neu-Ulm. Als größte Niederlage der Arbeiterbewegung bezeichnete Martin Kunzmann, der Landesvorsitzende des DBG, die Niederlage gegen den Nationalsozialismus.
Das erste was Diktaturen neben der Pressefreiheit abschaffen würden, seien Gewerkschaften. Nicht anders war es in Ulm: Gleich nach der Machtergreifung 1933 wurden auch in Ulm Häuser der Gewerkschaft und der SPD besetzt, „Linke“verhaftet und gegängelt. Leonhard Gerlinger etwa, der 1. Bevollmächtigte des Deutschen Metallarbeiterverbandes, kam in Gewahrsam. Aber er überlebte: Trotz Verfolgung ist Gerlinger der Mann der ersten Stunde, als er nach dem Krieg Bevollmächtigter der neuen Gewerkschaft IG Metall wurde und den Wiederaufbau des Ulmer Gewerkschaftshauses betrieb.
Gewerkschaften seien ein wichtiger „Anker der Demokratie“. Dass sich nun Entwicklungen aus der Vergangenheit in Teilen zu wiederholen scheinen, stimme ihn nachdenklich, so Wettengel.
Ein Film, der in Kürze auf Youtube zu sehen sein soll, erinnert auch an die Umbrüche und den Strukturwandel in den Nachkriegsjahrzehnten. Alle großen Unternehmen bauten in den 1980ern massiv Arbeitsplätze in Ulm ab: AEG-Telefunken, Iveco, Kässbohrer und Wieland.
Weit über 10 000 Menschen verloren damals ihre Arbeit in Ulm. Aufsehen in ganz Deutschland erregte 1982 die Schließung des Farbbildröhrenwerks Videocolor, 1700 Mitarbeiter wurden gekündigt. Zeiten, in denen das Haus der Gewerkschaften auch zu einem Anker der Enttäuschten wurde.
Im Jugendraum im Keller wurde der Che-Guevara-Klub gegründet. Heute hat Petra Wassermann, die 1. Bevollmächtigte der IG Metall, nicht mehr viel am Hut mit marxistischen Revolutionären. „Doch der Mojito war gut“, erinnert sie sich. „Wir haben uns immer neu erfinden müssen. Sonst gebe es uns heute nicht mehr.“Dazu gehört auch die Erfindung eines ungewöhnlichen Konstrukts. Einer der größten industriellen Arbeitgeber der Region sitzt in Bayern, doch die Tarifgeltung stammt aus Baden-Württemberg. Aus Gründen „historischer Kontinuität“blieb der Kässbohrer-Nachfolger Evobus somit eine Ulmer Firma mit Sitz in Neu-Ulm.
Die Ausstellung „100 Jahre Haus der Gewerkschaft“ist theoretisch bis 15. Juni im Stadtarchiv zu sehen. Wenn es die Corona-Regeln wieder zulassen, werden unter Telefon 0731 / 161-4205 Anmeldungen entgegengenommen.