„Die gemeldete Inzidenz ist zu ungenau“
Auslöser für Corona-Beschränkungen müssen andere Werte sein, so Statistiker Küchenhoff
BERLIN - Ausgangsbeschränkungen, Schulschließungen und mehr: Mit solchen Maßnahmen will die Bundesregierung die dritte Corona-Welle stoppen. Die Corona-Notbremse soll in Kraft treten, wenn eine Region bestimmte Inzidenzwerte überschreitet – wenn also die Zahl der Corona-Fälle pro 100 000 Einwohner innerhalb von sieben Tagen über einer bestimmten Schwelle liegt. Das ergibt keinen Sinn, sagt Statistik-Professor Helmut Küchenhoff. Diese Bewertung betrachte undifferenziert alle Altersgruppen. Stattdessen müsse die Zahl der Neuaufnahmen der Patienten in den Intensivstationen ins Blickfeld rücken, erklärt der Wissenschaftler im Interview mit Dominik Guggemos.
Warum halten Sie den politischen Fokus auf die Sieben-Tage-Inzidenz für einen Fehler?
Die gemeldete Inzidenz ist ungenau. Wir haben oft Probleme durch den Zeitverzug in den Meldebehörden. Der zweite Punkt ist die Dunkelziffer. Es werden viele Fälle übersehen, und die Dunkelziffer variiert über die Zeit.
Zum Beispiel wenn man an Schulen viel testet?
Genau. Die Dunkelziffer bei den Schülern wird dadurch geringer. Aber es entsteht eine Erhöhung der Melde-Inzidenz. In Wirklichkeit hat sich aber möglicherweise gar nichts geändert. Es kommt noch ein Faktor dazu.
Welcher?
Misst man überhaupt das Richtige? Die relevanten Größen einer Pandemie sind: Werden die Menschen krank und versterben sie? Die Inzidenz betrachtet undifferenziert alle Altersgruppen, dabei ist klar, dass die Wahrscheinlichkeit für einen schweren Verlauf ganz unterschiedlich ist.
Stattdessen schlagen Sie vor, die Neuaufnahmen auf die Intensivstationen in den Fokus zu rücken. Das Hauptargument für die Einschränkungen ist ja, dass man die Überlastung der Intensivstationen vermeiden will. Warum also nicht darauf schauen? Die Neuaufnahmen messen die Zahl der schweren Erkrankungen. Es besteht eine klare Korrelation: je mehr Neuaufnahmen, desto größer werden die Probleme auf den Stationen. Außerdem gibt es bei dieser Zahl keine Dunkelziffer und keine Möglichkeit zur Beeinflussung
durch mehr oder weniger Tests.
Was sind die Nachteile?
Derzeit ist die Erhebung der Daten nicht so gut geregelt. In den Zahlen, die die Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI) meldet, sind zum Beispiel auch Verlegungen mitgerechnet.
Mit genug politischem Willen ließe sich das Problem aber relativ einfach lösen, man müsste diese Zahlen ja nur gezielt erheben. Problematischer ist da schon die regionale Betrachtung, oder?
Das ist korrekt. So feingliedrig wie derzeit die Inzidenzen für einzelne Landkreise kann man die Neuaufnahmen nicht herunterbrechen. Auf Bundeslandebene kann man aber gute Grenzwerte berechnen – und eine rationale Begründung für Maßnahmen liefern. Das würde auch die Diskussion öffnen.
Ist es nicht zu spät, wenn Menschen auf der Intensivstation liegen?
Bei der Inzidenz gibt es ja auch eine Verzögerung: Symptome, Testung, Meldung. Die Verzögerung bei den Neuaufnahmen auf die Intensivstation ist da sogar geringer. Es ist besser, das Richtige etwas später zu messen als das Falsche früher. Ich plädiere nicht dafür, das als einzigen Indikator zur Bewertung der Pandemie heranzuziehen. Gut ist ein Ampelsystem, wie es zum Beispiel Berlin hat.
Wie stehen wir denn derzeit nach Ihrem Modell da?
Wir haben die Gesamtkapazität der DIVI-Daten angenommen und mit 30 Prozent gerechnet, die für CovidPatienten zurückgehalten werden. Darauf aufbauend gibt es Grenzwerte für die Bundesländer. In Thüringen wird dieser derzeit deutlich überschritten, Berlin und Brandenburg sind knapp darüber, BadenWürttemberg ist genau am Grenzwert.
Wir verstehen den Verlauf der Pandemie vor allem anhand von Daten und Prognosen, eigentlich das Spezialgebiet von Statistikern. Werden diese von der Politik ausreichend gehört?
Nein, genauso wie Epidemiologen. Andere Länder haben einen interdisziplinären Expertenrat. Im Moment weiß man ja gar nicht im Einzelnen, wer gerade eigentlich die Regierung berät.