Freitag, 30. April 2021
● ber da sind ja gar keine Astronauten“, sagt das kleine Mädchen, das mit großen Augen vor der Antenne 1 steht. Die Kleine ist sichtbar enttäuscht. Tatsächlich: Irgendwie würde es schon passen, wenn da jetzt Menschen in Raumanzügen vor den riesigen Antennen und Parabolspiegeln herumlaufen würden.
Das Bild wäre noch surrealer, als es eh schon ist: Oberbayerische
Bilderbuchlandschaft und gleichzeitig eine
Kulisse wie im Science-FictionFilm. Der Papa erklärt, dass diese Antenne 1 einst dafür sorgte, dass 1969 Fernsehbilder von der Mondlandung in die deutschen Wohnzimmer flimmerten. „Vom Mond?“, fragt sie. „Wirklich direkt vom Mond?“
Das Radom – ein Kunstwort – wie die Antenne 1 in Raisting heißt, war schließlich die wichtigste Verbindung Deutschlands zur Welt. Nur die USA, Großbritannien, Frankreich und Australien hatten damals solche Anlagen. Wir sprechen von einer Zeit, in der Rechner, mit im Vergleich zu heute extrem geringer Kapazität, Wohnzimmergröße hatten. Ein Überseegespräch kostete 50 Mark pro Minute, mit Raisting waren es nur noch drei Mark. Und das Fräulein vom Amt wurde in Rente geschickt.
„Die Antenne 1 ermöglichte 1965 die erste Live-Fernsehübertragung, löste mit 240 Fernsprechkanälen über Satellit die Unterseekabel von Deutschland nach Übersee ab und vollbrachte den ersten Schritt vom analogen ins digitale Zeitalter“, erklärt René Jakob, Geschäftsführer
Ader Radom GmbH. Und sie ermöglichte eben, dass Neil Armstrongs „kleiner Schritt für mich, aber ein großer für die Menschheit“auch in der Bundesrepublik zu sehen war. Astronauten und Agenten gab es allerdings nie in Raisting. Das heißt, keine Versuche, mit Außerirdischen in Kontakt zu treten, kein James Bond oder reale AgentenKollegen, wenngleich Jakob einschränkt: „Spionage wurde zumindest offiziell nicht betrieben …“. Dafür sei schließlich Bad Aibling zuständig gewesen. Die Bad-AiblingStation war von 1955 an knapp 50 Jahre lang die große Abhörbasis des USamerikanischen Nachrichtendienstes NSA mit bis zu 1800 Mitarbeitern. „Da spielte auch das berühmte Rote Telefon eine Rolle. Bei uns in Raisting ging es dagegen nur um öffentliche Satelliten-Übertragungen“, erklärt Jakob. Bei der Mondlandung zum Beispiel wurden die Bilder von Armstrong und seinen Kollegen in Australien empfangen, über Satellit nach Raisting, von dort auf die Zugspitze und schließlich in die deutschen Wohnstuben gesandt.
Raisting war ideal. Es lag so südlich wie möglich und dennoch weit genug von den hohen Alpengipfeln weg, um den besten Empfang zu haben. Die Standortwahl war also kein Zufall – und so kam der Pfaffenwinkel, ein Stück nahezu perfektes Oberbayern mit
Stallgeruch und 160
Kirchtürmen, die in den weiß-blauen Himmel ragen, zu seinen futuristisch wirkenden Parabolspiegeln. Einer soll vorgeschlagen haben, man solle die Schüsseln doch grün anstreichen, damit sie nicht so auffallen würden. In der Außendarstellung tat man die Idee aber als Aprilscherz ab.
Natürlich wirkt die Erdfunkstelle in Raisting bis heute fehl am Platze, hat aber andererseits auch ihre optischen Reize. Jedenfalls wurde das Projekt damals nicht als gottgegeben angenommen, was man vielleicht im katholischen Pfaffenwinkel hätte annehmen können. Der Raistinger Albert Tafertshofer kann sich noch an die Anfänge erinnern. Sein Vater war im Raistinger Gemeinderat mit den Planungen der Erdfunkstelle zu Beginn der 1960erJahre vertraut. „Es war sicher keine Liebesheirat“, sagt Tafertshofer. „Die Braut – Raisting – wurde zunächst nicht gefragt, der Bräutigam – die Bundespost – hielt sich im Hintergrund, beziehungsweise seine Pläne geheim.“Also machten Gerüchte die Runde. Der Zweite Weltkrieg war gerade mal 16 Jahre vorbei. Es bestand „die Furcht, dass bei einem erneuten Kriegsausbruch Raisting bombardiert werden könnte, um die Nachrichtenübertragung zu stören“, so weiß Tafertshofer zu berichten. Es herrschte Kalter Krieg, die Berliner Mauer war erst kurz zuvor gebaut worden. Doch durch den großzügigen Ankauf von Grundstücken zum damals sehr guten Preis von 15 Mark für den Quadratmeter verstummten bald die Gegenstimmen, zumal man ja an die zu erwartenden Mitarbeiter auch noch gut Zimmer vermieten konnte. Sogar die bekannteste Stimme der Gegnerschaft, der Komponist Carl Orff aus dem nahen Dießen am Ammersee, gab schließlich auf.
„Dann standen die Dinger
einfach da“, erinnert sich der Käser Sepp Krönauer von der Schönegger Käse Alm. „Sie müssen wissen: Wir auf dem Land hatten Anfang der 1960er-Jahre weder ein Auto noch einen Fernsehapparat! Und einen Sonntagsausflug zum Gucken gab’s auch nicht, obwohl wir ja nur 13 Kilometer entfernt lagen.“So wurden diese „Dinger“– genau genommen sieben große und unzählige kleine Antennen – mit der Zeit zum Symbol für den Wirtschaftsund Innovationsstandort Bayern. Erst kamen Rokoko und Erdfunkstelle, dann Laptop und Lederhose. Dabei kam und kommt die kleine Kirche St. Johann auf Heiligenstätten beinahe täglich zu ungeahntem Ruhm. Sie steht unbeeindruckt und von mehreren Parabolantennen umgeben auf einer weiten Ebene – und nicht nur die vielen japanischen, sondern auch zahlreiche deutsche Bustouristen meinen, sie sei die berühmte Wieskirche, das Weltkulturerbe,
„die formvollendetste RokokoKirche der Weltgeschichte“, wie der dort wirkende Pfarrer Gottfried Fellner meint. Aber diese bayerische Berühmtheit steht einige Kilometer weiter etwas abseits von Steingaden.
Anders als die Antennen, bei denen das Herz der Technik schon beim ersten Blick unübersehbar ist, offenbart die Wieskirche ihre geradezu verschwenderische Schönheit ja erst beim Betreten des ovalen Hauptraums. Über den Kirchenbänken wölbt sich mächtig ein herrlicher Himmel. Das Deckenfresko im Trompe-l’oeil-Stil überstrahlt alles und 420 Engel bewachen die Kirche „auf der Wies“. Es gibt kaum einen Ort, wo man der Welt der
Kreuze, Monstranzen und Reliquien, der Wallfahrer, Büßer und Beter näher kommen kann. Und es gibt kaum einen Ort, wo man dem Bereich der modernen Telekommunikation so nahe ist.
Erbaut wurde die Wieskirche 1745 bis 1754. Aber erst knapp hundert Jahre später, 1843, markierten Morsezeichen auf elektrischen Telegraphenleitungen den Beginn neuzeitlicher Nachrichtentechnik. Es folgten Kabelleitungen, sogar unter Wasser: Werner Siemens verlegte sie erstmals 1848 in Köln durch den Rhein. Sie beförderten aber gerade mal hundert Wörter pro Stunde. Sprechfunk auf Lang- und Kurzwelle folgten, doch erst die Satellitenverbindungen mit Erdfunkstellen, von denen es derzeit ein Dutzend in Deutschland gibt, ermöglichten eine Kommunikation, wie wir sie heute kennen. Am 20. Januar 1965 fand die erste reguläre TV-Übertragung statt. Die Spannung war immens, obgleich es sich doch nur um die Amtseinführung des US-amerikanischen Präsidenten Lyndon B. Johnson handelte.
Der erste öffentliche Fernsprechbetrieb über Raisting folgte später, am 28. Juni des gleichen Jahres. „Für uns junge Burschen war das alles gar nicht interessant. Aber 1972 und 1974, das war uns wichtig: Olympische Spiele in München und die Fußball-Weltmeisterschaft!“, erinnert sich Sepp Krönauer. Denn auch diese sportlichen Großereignisse liefen über Raisting.
Aber in den 1980er-Jahren kam dann das Ende. Im Jahr 1985 wurde das Radom dann außer Betrieb gestellt. Die Gemeinde sicherte sich die Antenne 1 für einen symbolischen Euro. Sie war ja auch nur für ungefähr 20 Jahre Dienst eingeplant gewesen. Jetzt wird das Industriedenkmal, seit 1999 unter Denkmalschutz, fit gemacht, um ab September – so Corona will – mit Ausstellungen und Breitwandkino von den Anfängen des digitalen Lebens erzählen zu können. Die anderen Antennen sind aber noch in Betrieb und mit Satelliten in Kontakt, ob für Schiffsverbindungen oder fürs Homeoffice – und zwar nicht nur wegen Corona. Firmen sind heutzutage digital vielfältig verknüpft. Wenn es in Frankfurt zehn Uhr ist, schläft New York noch und Sydney geht ins Bett, die Homeoffices aber sind 24 Stunden in Bereitschaft. Zu den weiteren Kunden zählen Fernsehgesellschaften, aber auch Regierungsorganisationen.
Agenten und Astronauten gibt es trotzdem bis heute nicht in Raisting. Auch wenn sie irgendwie ins Bild passen würden.