Ordnung muss sein
Der Leitz-Aktenordner, dessen Erfinder vor 175 Jahren geboren wurde, hat bundesweit Kultstatus. Aber hat er auch eine Zukunft?
STUTTGART
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(dpa/sz) - Er ist aus keiner Firma wegzudenken, dient der staatlichen Bürokratie noch immer als Grundpfeiler und hat auch in den meisten Privathaushalten seinen festen Platz im Schrank: der Aktenordner – im Sprachgebrauch fast besser bekannt unter dem Namen Leitz-Ordner. Mit seiner Erfindung revolutionierte Louis Leitz Ende des 19. Jahrhunderts die Organisation von Behörden und Büros – und legte zugleich den Grundstein für ein gutes Jahrhundert voller Umsatzrekorde für die nach ihm benannte Firma. Am kommenden Sonntag, den 2. Mai, jährt sich der Geburtstag des 1918 verstorbenen Erfinders zum 175. Mal. Und der würde sich heute vermutlich fragen, ob seine Erfindung angesichts der Digitalisierungswelle noch eine Zukunft hat.
Fasst man die Meinungen von Forschern und Experten zusammen, kann man sagen: Die Luft für den Aktenordner wird dünner in den nächsten Jahren und Jahrzehnten. „In westlichen Industriegesellschaften befindet er sich auf dem Rückzug“, sagt Christian Henrich-Franke, der an der Universität Siegen in den Bereichen Wirtschaftsgeschichte und Medientechnologien forscht. Ganz verschwinden aber werde der Ordner so schnell nicht aus den Büros und Privatwohnungen, denn Papier als Speichermedium habe weiter enorm viele Vorteile im Vergleich zu digitalen Alternativen wie USBSticks oder Cloud-Anwendungen.
Nicht nur, dass sich Papier als Hauptinhalt von Aktenordnern jederzeit und auch ohne Strom- und Netzanschluss aus der Ecke holen lasse. Auch müssten sich die Menschen bei Papier keine Sorgen machen, Jahrzehnte später bei der Suche nach wichtigen Dokumenten aufgeschmissen zu sein, sagt Henrich-Franke. „Dagegen sind die digitalen Technologien in einer viel schnelleren Taktung durch ihren eigenen technischen Fortschritt bedroht.“
Wer beispielsweise vor zehn Jahren wichtige Daten auf Medien wie einer CD-Rom oder einer Diskette abgespeichert habe, könne diese inzwischen überholten Speichermedien bei vielen modernen Geräten gar nicht mehr auslesen. Papier sei beständiger. „Solange Sie Papier nicht in die Sonne stellen und das ausbleicht, halten viele Papiersorten locker viele Hundert Jahre“, sagt der Experte und prognostiziert: „Der Anteil von Dingen, die wir digital speichern, wird in den nächsten Jahrzehnten zwar zweifellos zunehmen, der Anteil von Papierdokumenten sehr deutlich schrumpfen. Aber ein schnelles Aus drohe dem Aktenordner nicht.“
Auf die Beständigkeit des Mediums Papier hatte auch Louis Leitz
Firmengründer und Erfinder des LeitzOrdners Louis Leitz. gesetzt, als er 1871 einen ersten noch recht einfachen Ordner erfand und im selben Jahr seine Firma mit dem Namen „Werkstätte zur Herstellung von Metallteilen für Ordnungsmittel“gründete. Der Durchbruch, so ist es überliefert, folgte 25 Jahre später im Jahr 1896, als Leitz der Öffentlichkeit ein in weiten Teilen verbessertes Ordnermodell präsentierte – einen Hebelordner mit einem sogenannten Exzenterverschluss und Raumsparschlitzen im Einband. „Die heutige Technik gleicht immer noch dem Originalmodell. Und bis auf das Einfügen des bekannten Grifflochs wurde das Design konzeptuell nur noch geringfügig verändert“, teilt die Stuttgarter Firma Leitz, die heute zum US-Büroartikelkonzern Acco Brands gehört, auf Anfrage mit.
Vor allem Mitte des 20. Jahrhunderts – mit der Zunahme der staatlichen Verwaltung – sei die Nachfrage nach Aktenordnersystemen in der immer schon für seine administrative Gründlichkeit verschrienen Bundesrepublik und anderen Ländern rapide gestiegen, sagt Henrich-Franke. Spätestens Ende der 1960er-Jahre habe diese Welle auch die deutschen Unternehmen erreicht. „Ein klassisches Beispiel für diese Entwicklung ist die Einführung der Mehrwertsteuer im Jahr 1968. Auf einmal mussten Unternehmen eine wesentlich ausdifferenziertere Buchführung als vorher machen – dafür brauchten sie Ordner, in denen Dinge strukturiert abgeheftet werden konnten.“
Leitz berichtet von einem „Ordner-Boom“vor allem in den 1980erJahren. Wie viele Ordner das Unternehmen damals und in der Spitze verkaufte, teilt es auf Anfrage nicht mit – solche Daten lägen nicht vor. Bis 1998 war das mittelständische Unternehmen, das damals rund 2500 Mitarbeiter beschäftigte, eigenständig, ehe es vom schwedischen Esselte-Konzern aufgekauft wurde. Heute gehören Leitz und Esselte zu Acco Brands. Leitz beschäftigt jetzt noch rund 500 Mitarbeiter.
Die Corona-Krise hat dem Unternehmen einen erneuten „OrdnerBoom“verschafft. In Zeiten in denen die meisten Menschen ins Homeoffice umziehen mussten, stand Leitz bereit, um sie mit Ordnern, Heftern Aufbewahrungsboxen oder Notizbüchern zu versorgen. „Weil wir schon lange auf dem Markt aktiv sind, hatten wir eine gute Basis, auf die wir aufbauen konnten“, sagt eine Unternehmenssprecherin. Die CoronaKrise habe deutlich spürbar zu einer stärkeren Kundennachfrage bei Leitz geführt. Das Unternehmen reagierte und berichtet heute sogar in einem eigenen Blog darüber, wie sich die Menschen im Homeoffice am besten einrichten und organisieren.
Es geht dabei längst nicht mehr um den reinen Aktenordner, über die Jahre hat sich das Unternehmen mehr und mehr von dem Geschäft entkoppelt. Zwar wurden nach Firmenangaben im Jahr 2019 noch immer 100 Millionen Ordner hergestellt, allerdings mache das Geschäft mit solchen klassischen Registraturprodukten inzwischen weniger als 40 Prozent des Gesamtumsatzes aus.
Auch dank eines breiteren Produktangebots berichtet das Unternehmen von einem 70-prozentigen Umsatzplus innerhalb der vergangenen zehn Jahre auf rund 300 Millionen Euro im Vorjahr. Zum Gewinn macht das Unternehmen keine Angaben.
Rückgänge im Ordnergeschäft hat Leitz nicht nur mit dem Verkauf etwa von Luftreinigern oder Laminiergeräten abgefedert. Die Firma, die einst mit ihrer Erfindung das Aktensammeln mehrheitsfähig machte, bietet ihren Kunden mittlerweile auch das Gegenstück an: elektrische Aktenvernichter.