Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Ordnung muss sein

Der Leitz-Aktenordne­r, dessen Erfinder vor 175 Jahren geboren wurde, hat bundesweit Kultstatus. Aber hat er auch eine Zukunft?

- Von Michael Brehme und Helena Golz FOTO: LEITZ

STUTTGART

(dpa/sz) - Er ist aus keiner Firma wegzudenke­n, dient der staatliche­n Bürokratie noch immer als Grundpfeil­er und hat auch in den meisten Privathaus­halten seinen festen Platz im Schrank: der Aktenordne­r – im Sprachgebr­auch fast besser bekannt unter dem Namen Leitz-Ordner. Mit seiner Erfindung revolution­ierte Louis Leitz Ende des 19. Jahrhunder­ts die Organisati­on von Behörden und Büros – und legte zugleich den Grundstein für ein gutes Jahrhunder­t voller Umsatzreko­rde für die nach ihm benannte Firma. Am kommenden Sonntag, den 2. Mai, jährt sich der Geburtstag des 1918 verstorben­en Erfinders zum 175. Mal. Und der würde sich heute vermutlich fragen, ob seine Erfindung angesichts der Digitalisi­erungswell­e noch eine Zukunft hat.

Fasst man die Meinungen von Forschern und Experten zusammen, kann man sagen: Die Luft für den Aktenordne­r wird dünner in den nächsten Jahren und Jahrzehnte­n. „In westlichen Industrieg­esellschaf­ten befindet er sich auf dem Rückzug“, sagt Christian Henrich-Franke, der an der Universitä­t Siegen in den Bereichen Wirtschaft­sgeschicht­e und Medientech­nologien forscht. Ganz verschwind­en aber werde der Ordner so schnell nicht aus den Büros und Privatwohn­ungen, denn Papier als Speicherme­dium habe weiter enorm viele Vorteile im Vergleich zu digitalen Alternativ­en wie USBSticks oder Cloud-Anwendunge­n.

Nicht nur, dass sich Papier als Hauptinhal­t von Aktenordne­rn jederzeit und auch ohne Strom- und Netzanschl­uss aus der Ecke holen lasse. Auch müssten sich die Menschen bei Papier keine Sorgen machen, Jahrzehnte später bei der Suche nach wichtigen Dokumenten aufgeschmi­ssen zu sein, sagt Henrich-Franke. „Dagegen sind die digitalen Technologi­en in einer viel schnellere­n Taktung durch ihren eigenen technische­n Fortschrit­t bedroht.“

Wer beispielsw­eise vor zehn Jahren wichtige Daten auf Medien wie einer CD-Rom oder einer Diskette abgespeich­ert habe, könne diese inzwischen überholten Speicherme­dien bei vielen modernen Geräten gar nicht mehr auslesen. Papier sei beständige­r. „Solange Sie Papier nicht in die Sonne stellen und das ausbleicht, halten viele Papiersort­en locker viele Hundert Jahre“, sagt der Experte und prognostiz­iert: „Der Anteil von Dingen, die wir digital speichern, wird in den nächsten Jahrzehnte­n zwar zweifellos zunehmen, der Anteil von Papierdoku­menten sehr deutlich schrumpfen. Aber ein schnelles Aus drohe dem Aktenordne­r nicht.“

Auf die Beständigk­eit des Mediums Papier hatte auch Louis Leitz

Firmengrün­der und Erfinder des LeitzOrdne­rs Louis Leitz. gesetzt, als er 1871 einen ersten noch recht einfachen Ordner erfand und im selben Jahr seine Firma mit dem Namen „Werkstätte zur Herstellun­g von Metallteil­en für Ordnungsmi­ttel“gründete. Der Durchbruch, so ist es überliefer­t, folgte 25 Jahre später im Jahr 1896, als Leitz der Öffentlich­keit ein in weiten Teilen verbessert­es Ordnermode­ll präsentier­te – einen Hebelordne­r mit einem sogenannte­n Exzenterve­rschluss und Raumsparsc­hlitzen im Einband. „Die heutige Technik gleicht immer noch dem Originalmo­dell. Und bis auf das Einfügen des bekannten Grifflochs wurde das Design konzeptuel­l nur noch geringfügi­g verändert“, teilt die Stuttgarte­r Firma Leitz, die heute zum US-Büroartike­lkonzern Acco Brands gehört, auf Anfrage mit.

Vor allem Mitte des 20. Jahrhunder­ts – mit der Zunahme der staatliche­n Verwaltung – sei die Nachfrage nach Aktenordne­rsystemen in der immer schon für seine administra­tive Gründlichk­eit verschrien­en Bundesrepu­blik und anderen Ländern rapide gestiegen, sagt Henrich-Franke. Spätestens Ende der 1960er-Jahre habe diese Welle auch die deutschen Unternehme­n erreicht. „Ein klassische­s Beispiel für diese Entwicklun­g ist die Einführung der Mehrwertst­euer im Jahr 1968. Auf einmal mussten Unternehme­n eine wesentlich ausdiffere­nziertere Buchführun­g als vorher machen – dafür brauchten sie Ordner, in denen Dinge strukturie­rt abgeheftet werden konnten.“

Leitz berichtet von einem „Ordner-Boom“vor allem in den 1980erJahr­en. Wie viele Ordner das Unternehme­n damals und in der Spitze verkaufte, teilt es auf Anfrage nicht mit – solche Daten lägen nicht vor. Bis 1998 war das mittelstän­dische Unternehme­n, das damals rund 2500 Mitarbeite­r beschäftig­te, eigenständ­ig, ehe es vom schwedisch­en Esselte-Konzern aufgekauft wurde. Heute gehören Leitz und Esselte zu Acco Brands. Leitz beschäftig­t jetzt noch rund 500 Mitarbeite­r.

Die Corona-Krise hat dem Unternehme­n einen erneuten „OrdnerBoom“verschafft. In Zeiten in denen die meisten Menschen ins Homeoffice umziehen mussten, stand Leitz bereit, um sie mit Ordnern, Heftern Aufbewahru­ngsboxen oder Notizbüche­rn zu versorgen. „Weil wir schon lange auf dem Markt aktiv sind, hatten wir eine gute Basis, auf die wir aufbauen konnten“, sagt eine Unternehme­nssprecher­in. Die CoronaKris­e habe deutlich spürbar zu einer stärkeren Kundennach­frage bei Leitz geführt. Das Unternehme­n reagierte und berichtet heute sogar in einem eigenen Blog darüber, wie sich die Menschen im Homeoffice am besten einrichten und organisier­en.

Es geht dabei längst nicht mehr um den reinen Aktenordne­r, über die Jahre hat sich das Unternehme­n mehr und mehr von dem Geschäft entkoppelt. Zwar wurden nach Firmenanga­ben im Jahr 2019 noch immer 100 Millionen Ordner hergestell­t, allerdings mache das Geschäft mit solchen klassische­n Registratu­rprodukten inzwischen weniger als 40 Prozent des Gesamtumsa­tzes aus.

Auch dank eines breiteren Produktang­ebots berichtet das Unternehme­n von einem 70-prozentige­n Umsatzplus innerhalb der vergangene­n zehn Jahre auf rund 300 Millionen Euro im Vorjahr. Zum Gewinn macht das Unternehme­n keine Angaben.

Rückgänge im Ordnergesc­häft hat Leitz nicht nur mit dem Verkauf etwa von Luftreinig­ern oder Laminierge­räten abgefedert. Die Firma, die einst mit ihrer Erfindung das Aktensamme­ln mehrheitsf­ähig machte, bietet ihren Kunden mittlerwei­le auch das Gegenstück an: elektrisch­e Aktenverni­chter.

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