Die meisten afghanischen Flüchtlinge leben in Afghanistan
Experten rechnen nicht mit einer Fluchtbewegung wie 2015 aus Syrien – Was die Situation vor sechs Jahren und heute unterscheidet
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BERLIN - Nur wenige Tausend Menschen konnten in den vergangenen Tagen Afghanistan auf dem Luftweg verlassen. Doch Politiker in Europa stellen bereits Schätzungen in den Raum, wie viele Flüchtlinge aus Afghanistan zu erwarten sind. Innenminister Horst Seehofer (CSU) sprach von 300 000 bis fünf Millionen. Andere Politiker wie Unionskanzlerkandidat Armin Laschet forderten: Das Jahr 2015 dürfe sich nicht wiederholen. In diesem Jahr waren Hunderttausende Menschen, vor allem aus Syrien, nach Deutschland gekommen. Die Nachbarländer Afghanistans sollten die Flüchtlinge aufnehmen. Doch ist dies praktikabel? Und wird es so weit kommen, dass Hunderttausende oder Millionen Afghanen ins Ausland fliehen? Dazu die wichtigsten Fragen und Antworten.
Wie belastbar sind Seehofers ●
Zahlenangaben über mögliche Flüchtlinge aus Afghanistan?
Experten gehen nicht davon aus, dass Hunderttausende oder Millionen Menschen Afghanistan verlassen – und zwar aus mehreren Gründen: „Es gibt derzeit keinen Bürgerkrieg im Land. Das hat zur Folge, dass der Migrationsdruck auf die Nachbarländer noch nicht allzu hoch ist“, sagt Christian Wagner, Asien-Experte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. Auch sein Kollege, der Migrationsforscher Steffen Angenendt, sieht es so, dass die Taliban derzeit keine gezielte Vertreibungsstrategie zu verfolgen scheinen. Trotzdem werde in den nächsten Wochen nicht nur die Zahl der Binnenvertriebenen zunehmen, sondern auch derjenigen, die trotz aller Schwierigkeiten versuchten, ins Ausland zu gelangen. In Afghanistan leben nach Angaben des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) geschätzt 3,4 Millionen Menschen als Binnenflüchtlinge, das heißt als Vertriebene im eigenen Land. Afghanistan zu verlassen, ist schwierig, da einerseits die Taliban die Straßen und Grenzen kontrollieren und andererseits die Nachbarländer die Grenzen weitgehend geschlossen haben.
Könnten die Flüchtlinge aus Afghanistan ● in Deutschland zu einer Situation wie 2015 führen?
Auch das halten Experten für nicht sehr realistisch. Die Fluchtwege für die Syrer damals seien bedeutend kürzer gewesen, sagt Angenendt. „Und die Grenzen der Erstaufnahme- und Transitstaaten, die die Menschen durchwandern mussten, waren 2015 längst nicht so verschlossen wie heute.“Das heißt, selbst wenn es Afghanen gelingen sollte, ihr eigenes Land zu verlassen, ist es mit hohen Risiken verbunden, Europa zu erreichen. Die türkische Regierung, die wegen ihrer Flüchtlingspolitik innenpolitisch massiv unter Druck steht, baut eine Mauer an der Grenze zu Iran (siehe Text unten). Die griechische Regierung kündigte bereits an, Migranten an den Grenzen des Landes, die auch EU-Grenzen sind, zu stoppen. Was Afghanen und Syrer darüber hinaus unterscheidet: „Viele Syrer haben zumindest zum Zeitpunkt ihrer Flucht über Ersparnisse verfügt“, so Angenendt. Das ist bei den meisten Menschen in Afghanistan anders. Afghanistan gehört zu den Staaten mit den weltweit niedrigsten Einkommen.
Ist es realistisch zu fordern, die ●
Nachbarländer Afghanistans sollen die Flüchtlinge aus dem Land aufnehmen?
Afghanistan grenzt an Iran, Turkmenistan, Usbekistan, Tadschikistan, die Volksrepublik China und Pakistan. In den vergangenen Jahrzehnten wurden die meisten afghanischen Flüchtlinge von Pakistan (einst mehr als drei Millionen) und Iran aufgenommen – von denen viele geblieben sind. Diese beiden Länder stecken aber selbst in wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Deshalb ist ihre Bereitschaft, weitere Afghanen aufzunehmen, nicht sehr ausgeprägt. „Iran hat zwar bereits ein Flüchtlingslager im Grenzgebiet aufgebaut, will aber nur temporären Schutz gewähren“, sagt Angenendt. Auch Pakistan, das jahrzehntelang die Führung der Taliban unterstützt und deren Umtriebe im Grenzgebiet toleriert hat, will Schutzsuchende nicht mehr dauerhaft ins Land lassen. Trotz der kulturellen Nähe zwischen beiden Ländern, gibt es Vorbehalte gegen Afghanen. „Viele Pakistaner fürchten die Konkurrenz auf dem ohnehin kaum vorhandenen Arbeitsmarkt“, sagt Christian Wagner. Der Migrationsforscher Angenendt rät Deutschland und der Europäischen Union – auch als Lehre aus 2015/2016 –, die Nachbarländer Afghanistans massiv mit humanitärer Hilfe zu unterstützen. „Die Fluchtbewegung war 2015 auch deshalb so stark, weil internationale Hilfsorganisationen die Unterstützungsleistungen für die Flüchtlinge reduzieren mussten, weil sie von den Industriestaaten keine ausreichenden Finanzmittel bekamen.“
Sind die nördlich von Afghanistan ● gelegenen Staaten willens, Flüchtlingen zu helfen?
Usbekistan, Turkmenistan und Tadschikistan haben ihre Grenzen abgeriegelt, aber immerhin hat Tadschikistan angekündigt, bis zu 100 000 Afghanen aufnehmen zu wollen. In der Vergangenheit waren diese Länder nicht sehr gastfreundlich zu Flüchtlingen aus Afghanistan. Dies zeige sich auch darin, dass die offiziellen Zahlen zu den Flüchtlingen immer niedriger angegeben worden seien, als sie es in Wirklichkeit waren, teilt Sara Bazoobandi, wissenschaftliche Mitarbeiterin am GigaInstitut für Nahost-Studien, mit. Den Regierungen in diesen Ländern war offensichtlich nicht daran gelegen, die geflohenen Menschen angemessen unterzubringen und ihnen Zugang zu Bildung und zur Gesundheitsversorgung zu ermöglichen. Auch die Sicherheit und der Schutz der Menschenrechte der Flüchtlinge seien in Tadschikistan und Turkmenistan ungelöste Probleme, so Bazoobandi. Für alle Nachbarländer
Afghanistans gelte darüber hinaus: In keinem dieser Länder gibt es geordnete Asylverfahren, die Flüchtlinge müssen auf der Basis vorübergehender Aufenthaltstitel im Land leben.
Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, ● dass sich die Europäische Union mit Iran und Pakistan darauf einigt, sie mit Geld zu unterstützen, wenn sie die afghanischen Flüchtlinge im Land behalten – ähnlich wie es bei der Türkei der Fall war?
Das ist nicht nur eine Frage des Geldes. „Da geht es auch um die Bedingungen, die die EU mit den Hilfszahlungen verbindet“, sagt Angenendt. Kurzfristige Hilfen, beispielsweise für Lebensmittel und Unterkünfte seien nicht das Problem. Schwierig werde es, wenn die finanzielle Unterstützung für Programme mit langfristigem Charakter genutzt werden soll, etwa für Bildung und Erwerbstätigkeit. Denn das würde ja heißen, dass die Menschen dauerhaft im Land bleiben. Was also gut wäre für die EU-Staaten, ist eben nicht unbedingt im Interesse von Pakistan und Iran und der Länder in Zentralasien. Dabei müsste eigentlich allen klar sein, dass viel Zeit vergehen wird, bis die Menschen wieder nach Afghanistan zurückkehren – wenn überhaupt.
Wie stellen sich die Europäer zur ●
Aufnahme von Flüchtlingen aus Afghanistan?
Sie streiten. Innerhalb der Europäischen Union sind die Positionen sehr unterschiedlich. Auf der Seite der Blockierer stehen Länder wie Österreich und – wie seit Jahren – die Staaten Osteuropas. Auf der anderen Seite stehen Politiker wie der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn, der eine möglichst schnelle Einigung auf Flüchtlingskontingente gefordert hat, um legale Fluchtwege aus Afghanistan nach Europa zu ermöglichen. Ebenso haben mehrere deutsche Bundesländer wie BadenWürttemberg und Nordrhein-Westfalen und auch Städte in Bayern und in anderen Ländern aktuell ihre Bereitschaft bekundet, Menschen aus Afghanistan aufzunehmen. Allerdings geht es da um Ortskräfte und deren Familien, die derzeit ausgeflogen werden, und nicht um andere Afghanen, die sich von den Taliban bedroht fühlen.