Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Historisch wenig Bergtote im Corona-Jahr

Bilanz des Deutschen Alpenverei­ns weist aber mehr Notfälle bei Trendsport­arten auf

- Von Sabine Dobel www.schwäbisch­e.de/alpen

MÜNCHEN (dpa) - Tränen fließen. Die Kraft reicht nicht. Und die Griffe sind viel zu weit weg. Der kleine Junge hängt in dem Kletterste­ig Rio Sallagoni in den Gardasee-Bergen und kommt nicht vor und auch nicht zurück. Unter gutem Zureden und mit vereinten Kräften schieben Vater und Mutter den Kleinen retour. Sie erreichen ohne fremde Hilfe den Ausgang. Doch immer öfter müssen Bergretter ausrücken, um überforder­te Kinder und Jugendlich­e aus Kletterste­igen zu holen. Das zeigt die am Mittwoch in München vorgestell­te Bergunfall­statistik des Deutschen Alpenverei­ns (DAV) 2020.

Dabei stiegen die Notfall- und Unfallzahl­en im Corona-Jahr 2020 nur bei den Trendsport­arten Kletterste­iggehen und Mountainbi­ken. Bei den Todesopfer­n gab es sogar einen historisch­en Tiefstand.

Das Jahr und damit auch die Unfallzahl­en seien „ganz klar von Corona geprägt gewesen“, sagte Lukas Fritz von der DAV-Sicherheit­sforschung. „Es ist wahrschein­lich, dass viele Menschen die Appelle der Alpenverei­ne zur Zurückhalt­ung ernst genommen haben.“Die Sorge, dass der pandemiebe­dingte Ansturm auf die Berge die Unfälle nach oben schnellen lassen könnte, habe sich zumindest bei den DAV-Mitglieder­n 2020 nicht bestätigt, sagte Sprecher Thomas Bucher. Es sei aber in jeder Hinsicht „ein ungewöhnli­ches Jahr“gewesen.

28 DAV-Mitglieder kamen 2020 in den Bergen ums Leben – halb so viele wie im Jahr zuvor (56), in dem es aber ungewöhnli­ch viele Todesfälle gab. Zugleich sei es die geringste absolute Zahl seit der ersten Statistik 1952, obwohl der Verband mit knapp 1,4 Millionen heute die gut zehnfache Mitglieder­zahl hat.

Wermutstro­pfen: In diesem Jahr, für das der DAV noch keine Zahlen hat, meldet die Polizei im südlichen Oberbayern die hohe Zahl von 33 Todesopfer­n – im gesamten vergangene­n Jahr waren es 34. Dabei stehe heuer der Herbst mit seiner Wandersais­on noch bevor, sagte der Sprecher des Polizeiprä­sidiums Oberbayern Süd, Stefan Sonntag. Viele unterschät­zten ihre Leistungsf­ähigkeit oder die Gefahren – zugleich seien pandemiebe­dingt sehr viele Menschen in den Bergen unterwegs. Allein in den vergangene­n zwei Wochen stürzten zwei Menschen am Watzmann in den Tod, erst eine 39Jährige, Tage später ein 59-Jähriger.

Diese Woche erschütter­te das Unglück oberhalb der Höllentalk­lamm die Menschen – eine Frau starb, als eine Flutwelle durch die Schlucht rauschte.

Insgesamt setzte sich nach den DAV-Zahlen im vergangene­n Jahr aber der langfristi­ge Trend sinkender Not- und Unfälle in fast allen Bergsportd­isziplinen fort. Zwar passierten die meisten tödlichen Unfälle beim Wandern. Die Wanderer sind allerdings auch die bei Weitem größte Gruppe der Bergsportl­er. Statistisc­h sei das Risiko, beim Wandern zu verunglück­en, extrem gering: Ein Bergsportl­er müsse demnach rund 228 Jahre lang jeden Tag eine Wanderung unternehme­n, ehe er eine Verletzung erleide.

Bei den Unfallzahl­en 2020 spielten auch der Lockdown und die geschlosse­nen Grenzen im Frühjahr eine Rolle. Damit platzte die Skitourens­aison, die sonst von März bis Mai Tourengehe­r ins Hochgebirg­e etwa in Österreich oder in die Schweiz lockt.

Weniger Unfälle im Winter, in etwa gleichblei­bende Zahlen im Sommer, viele Einsätze mit Mountainbi­kern und eine Zunahme der Einsätze mit unverletzt­en, blockierte­n oder hilfsbedür­ftigen Menschen – diese

Trends registrier­t auch die Bergwacht Bayern.

Der DAV-Statistik zufolge ging es in mehr als der Hälfte der Vorfälle an Kletterste­igen um Blockierun­gen, bei denen die Betreffend­en nicht weiterkomm­en. Ein Viertel der Fälle betraf Stürze. Kletterste­ige würden teils unterschät­zt, hieß es. Nicht belegbar ist, ob angesichts geschlosse­ner Freizeitei­nrichtunge­n mancher sich auf der Suche nach Neuem ohne entspreche­nde Erfahrung in einen Kletterste­ig wagte.

Bei den Mountainbi­kern sorgten vor allem Unfälle in Bikeparks für steigende Zahlen. Der Anteil der Unfälle mit E-Bikes sei mit zwölf Prozent überrasche­nd gering. Das konflikttr­ächtige Miteinande­r von Wanderern und Mountainbi­kern, das auch schon zu handgreifl­ichen Auseinande­rsetzungen führte, sei immerhin nicht unfallträc­htig: In 20 Jahren sei beim DAV nicht ein einziger Zusammenst­oß bekannt geworden. Der DAV wertet für die Statistik weltweit nur Daten seiner Mitglieder aus.

Bergunfäll­e nach Sportart und Gespräch mit Extremberg­steiger auf

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FOTO: FRANZISKA GABBERT Im vergangene­n Jahr zählten die Bergwachte­n in den Alpen die meisten tödlichen Unfälle bei Wanderern. Sie sind allerdings auch bei Weitem die größte Gruppe der Bergsportl­er.

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