Eine Wohnung für 88 Cent und drei Gebete
Die Augsburger Fuggerei wird 500 – Warum das Zusammenleben in der ersten Sozialsiedlung der Welt auch heute noch funktioniert
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AUGSBURG - Ein Vaterunser, ein Glaubensbekenntnis und ein Ave Maria täglich – das ist die Miete für im Schnitt 60 Quadratmeter Wohnraum, im Erdgeschoss mit Garten. Plus 88 Cent Miete im Jahr, was vor 500 Jahren, als die Fuggerei gebaut wurde, einem Gulden entsprach. Plus 88 Cent für den Pfarrer. Das ist nicht viel. „Aber beim täglichen Beten bin ich eine von denen, die nachsitzen muss“, gesteht Ilona Barber. Die 71-Jährige wohnt seit sechs Jahren in der Augsburger Fuggerei, der ältesten Sozialsiedlung der Welt. Mit ihren beiden Hunden sitzt sie auf dem Sofa ihrer Wohnung im ersten Stock und erklärt: „Ich muss schon mit den Hunden viermal am Tag raus.“Das muss reichen.
Am 23. August 1521, als Jakob Fugger, der seinerzeit reichste Mann Europas, die Stiftungsurkunde für die Fuggerei unterschrieb, war sein Ziel klar definiert: Bedürftige, katholische Bürger Augsburgs sollten hier ein Dach über dem Kopf finden, wenn sie und ihre Familien in Not geraten waren. Nicht Bettler oder Habenichtse. Für die waren Stadt und Kirche zuständig. Handwerker und „ehrbare Leut’“mit Bürgerrechten, die keine Arbeit fanden oder krank wurden, sollten nicht auf der Straße landen. „Nicht die Gebete waren damals das Neue. In anderen wohltätigen Einrichtungen wurde den ganzen Tag gebetet. Nur drei Gebete am Tag, das war das Neue. Der Rest des Tages blieb für die Arbeit“, sagt Wolf-Dietrich Graf von Hundt. Er ist seit 23 Jahren Administrator der Fuggerei und leitet sie im Auftrag von drei Linien der Familie Fugger.
Die Fuggerei ist ein Faszinosum: Wie kann eine Sozialsiedlung seit 500 Jahren nach Regeln, die damals festgeschrieben wurden, funktionieren? Mittelalterlicher geht es kaum. Was auffällt bei einem Gang durch die von sandsteinfarbenen Reihenhäusern gesäumten Gassen der Fuggerei: Alle sind so entspannt. Das liegt wahrscheinlich zum einen an der Architektur. Zweistöckige Gebäude mit grünen Holztüren und einem Seilzug mit Klingel, jede Wohnung hat ihren eigenen Eingang. „Man hätte auch vor 500 Jahren schon höher bauen können, wollte die Anlage aber bewusst übersichtlich halten“, so Graf von Hundt. Und auch als 1944 zwei Drittel der Fuggerei bei einem Bombenangriff zerstört wurden, hielten sich die Erben Fuggers beim Wiederaufbau an diese Vorgabe.
Die Bauweise, die dörfliche Gemütlichkeit ausstrahlt, ist das eine, und sicher ein Grund dafür, dass Tausende von Touristen jedes Jahr durch die Fuggerei bummeln. Doch es ist mehr als das. Spricht man mit den Bewohnern und hört ihren Gesprächen zu, fällt der freundliche Ton auf. Nicht immer, und nicht bei allen, aber überwiegend. Soziale Brennpunkte hören sich anders an.
Kuratiertes Wohnen lautet das Zauberwort, so von Hundt. Bei einer Ausstellung entscheidet ein Kurator, an welcher Stelle sich ein Kunstwerk in einem Raum am besten entfalten kann. Das eine oder andere Bild wird aussortiert wenn es den Gesamteindruck stört.
Die Kuratorinnen der Fuggerei sind zuerst die beiden Sozialarbeiterinnen Doris Herzog und Michaela Huber. Sie sichten die derzeit 100 Bewerbungen im Jahr, überprüfen in Zusammenarbeit mit Sozialamt und sonstigen Stellen die Bedürftigkeit. Das durchschnittliche Einkommen der Bewohner liegt bei 900 Euro im Monat. Aber nicht nur die finanzielle Situation ist entscheidend. „Manchmal besuche ich einen Bewerber auch zu Hause, um mir einen Eindruck zu verschaffen“, beschreibt Doris Herzog das Prozedere. Ihren Vorschlag gibt sie dann an den Administrator
von Hundt weiter, der ebenfalls ein Gespräch mit dem Bewerber, der Bewerberin führt. Dann trifft das Seniorat der Fuggerei-Stiftungen, bestehend aus je einem Vertreter der drei Fugger’schen Linien Fugger-Kirchberg, Fugger-Babenhausen und Fugger von Glött, die letzte Entscheidung.
Es gibt einfachere Auswahlverfahren. Und sozial gerechtere. Das räumt Graf von Hundt ein und begründet es folgendermaßen: „Wir orientieren uns am Willen des Stifters. Der Staat muss alle gleich behandeln. Wir wählen unsere Bewohner danach aus, ob sie in die Fuggerei passen.“Sehe man, dass ein Bewerber beispielsweise ein massives Drogenproblem habe, empfehle er eine andere Anlaufstelle. „Da sind wir die Falschen.“Doris Herzog gibt noch ein Beispiel: „ Ich würde nie einer Familie mit Kindern die Wohnung über einem lärmempfindlichen Rentner geben. Eher schon über einem tauben.“Nicht immer gehe die Rechnung auf, Probleme zwischen Nachbarn gebe es natürlich auch in der Fuggerei. Hier kommt der zweite Unterschied zum kommunalen Sozialwohnungsbau
ins Spiel: Das Zusammenleben in der Fuggerei wird nicht nur kuratiert, sondern auch moderiert.
Beispielsweise beschwert sich Ilona Barber im Gespräch mit Michaela Huber über einen Bewohner, der sie absichtlich gestoßen habe. Darüber müsse sie mal mit „Grafunt“reden. Gemeint ist Graf von Hundt, der dann vermitteln muss. Doris Herzog berichtet von Lärmbelästigung und den üblichen Kabbeleien zwischen Nachbarn. Sie bringt dann die Kontrahenten zusammen, sucht nach Lösungen. Zwei Sozialarbeiterinnen und ein Pfarrer, der zur Fuggerei gehört, die sich um Wohl und Wehe von 150 Bewohnern kümmern – das ist das große Plus der Fuggerei, finanziert wie der Unterhalt der Gebäude aus dem Stiftungsvermögen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts ist dies überwiegend in der Forstwirtschaft angelegt, weshalb Niedrigzins kein Thema ist.
Doris Herzog und Michaela Huber organisieren auch die wöchentlichen Treffs zum Frühstück oder Kaffee im Gemeinschaftsraum. Vor dem stehen am Nachmittag Rollatoren. Ist die Fuggerei betreutes Wohnen für betagte Augsburger? „Das war es nach dem Krieg, als die Witwen mit den kleinen Renten bei uns gewohnt haben. Inzwischen haben wir eine Mischung aus allen gesellschaftlichen Gruppen. Schon Rentner, aber auch Alleinerziehende, Familien, junge Menschen. Die Wohnungsnot nimmt stetig zu“, sagt Astrid Gabler, die Sprecherin der Stiftung.
Für Andrea Irmler, 55, war der Umzug in die Fuggerei vor erst sechs Wochen eine bewusste Entscheidung für die Gemeinschaft dort. Durch Trennung und, wie sie sagt, Gutgläubigkeit hat sie ihr Zuhause verloren. Sie spricht vom großen Glück, kostenfrei in der Fuggerei wohnen zu dürfen. Nur die Nebenkosten für Heizung und Strom fallen auch hier an. Für ihren Lebensunterhalt arbeitet sie halbtags als Kinderpflegerin. „Ich bin angekommen. Und ich bin stolz, hier zu wohnen.“
Doris Herzog spricht von einer Ruhe, die bei vielen einkehre, wenn sie hierher kommen. Das Wissen, dass einem nicht gekündigt wird, ob man beruflich auf die Beine kommt oder auch nicht, gebe Sicherheit. „Man muss aushalten können, wenn