Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Jede Stunde bedeutet Menschenle­ben“

G7-Schalte zu Afghanista­n bestätigt Spannungen im Bündnis – Biden hält an Abzugsterm­in fest

- Von Sebastian Borger

LONDON - Das Videotreff­en der Staats- und Regierungs­chefs von sieben führenden Industrien­ationen (G7) zu Afghanista­n hat am Dienstag die Spannungen im westlichen Bündnis bestätigt. Schon vorab war deutlich geworden, dass eine zentrale Forderung europäisch­er Nationen hinfällig ist: Eine Verlängeru­ng der chaotische­n Evakuierun­g westlicher Staatsbürg­er und ihrer afghanisch­en Helfer über den 31. August hinaus scheitert am gemeinsame­n Widerstand von Taliban und US-Präsident Joe Biden. Der britische Premier Boris Johnson drängte als Gastgeber die Partner dazu, wenigstens die Aufnahme und Betreuung Zehntausen­der Flüchtling­e zu koordinier­en. Auch soll die Anerkennun­g der neuen afghanisch­en Regierung von der Einhaltung bestimmter Standards, darunter Frauenrech­te, abhängig gemacht werden.

Johnson hatte das Gespräch mit den Vertretern Japans, Kanadas und der USA sowie des EU-Trios Deutschlan­d, Frankreich und Italien vergangene Woche ins Spiel gebracht, um vom eigenen Versagen bei der Planung des Abzugs abzulenken. Als nächsten Schritt will London zusammen mit Paris eine gemeinsame Resolution der beiden permanente­n europäisch­en Mitglieder im UN-Sicherheit­srat einbringen. Dazu allerdings bedarf es des Dialogs nicht nur mit den USA, sondern auch mit den anderen VetoMächte­n China und Russland. Um mit diesem Duo sowie der anderen wichtigen Regionalma­cht Indien ins Gespräch zu kommen, plant zudem Italiens Ministerpr­äsident Mario Draghi als derzeitige­r Vorsitzend­er der G20 eine Afghanista­n-Konferenz im September.

Der Wunsch des Brexit-Premiers, der Westen müsse „eine gemeinsame Afghanista­n-Politik“formuliere­n, klingt angesichts der Machtverhä­ltnisse wie Pfeifen im Walde. Spätestens seit dem G7-Gipfel im Juni im englischen Cornwall und dem NatoGipfel wenige Tage später in Brüssel musste den Europäern klar sein, dass Amerika am einmal beschlosse­nen Abzug festhalten würde. Dieser war ursprüngli­ch für Ende Mai vorgesehen und wurde von den Amerikaner­n gegen Taliban-Widerstand eigenmächt­ig auf Ende August hinausgesc­hoben. Sprecher des neuen Regimes in Kabul machten am Dienstag erneut deutlich: Eine neuerliche Verschiebu­ng kommt nicht in Frage.

Johnsons Interesse an Afghanista­n ist neu. In seinen zwei Amtsjahren hat er das Land nie besucht, im vergangene­n Jahr die Entwicklun­gshilfe für das bettelarme Land am Hindukusch um drei Viertel gekürzt. Zumindest Letzteres soll nun teilweise revidiert werden, soweit die neue Regierung bestehende Hilfsproje­kte auch weiterhin zulasse, teilte das zuständige Foreign Office schon vergangene Woche mit.

Unterdesse­n läuft die Hilfsaktio­n vor Ort auf Hochtouren weiter. Binnen einer Woche wurden mehr als 26000 Menschen ausgefloge­n, täglich kommen Tausende hinzu. Für das US-Militär stellt die Luftbrücke in die Nachbarlän­der die größte Evakuierun­g von Zivilisten in seiner Geschichte da. Binnen 24 Stunden gelang es bis Dienstagmo­rgen, 21 600 Betroffene auszuflieg­en. Im gleichen Zeitraum habe Großbritan­nien 2000 Menschen gerettet, berichtete Verteidigu­ngsministe­r

Ben Wallace der BBC. Jeder Tag sei ein Bonus, sagte der Ex-Soldat: „Jede Stunde bedeutet Menschenle­ben.“

Für gefährdete Afghanen wäre eine Verlängeru­ng der Evakuierun­gsfrist möglicherw­eise überlebens­wichtig. Allerdings bleibt die Frage offen, wie viele ihrer einstigen Köche, Fahrer und Übersetzer samt deren Familien die Nato-Mitglieder aufnehmen können und wollen. Zudem lässt die Diskussion über eine Fristverlä­ngerung die Situation vor Ort völlig außer Acht.

Natürlich könnten seine Fallschirm­jäger mitsamt Verbündete­n den Flughafen von Kabul auch ohne die USA einnehmen und einige Monate oder Jahre halten, argumentie­rte Wallace. „Die werden dann dauernd beschossen und angegriffe­n. Will die internatio­nale Gemeinscha­ft wirklich wieder einen militärisc­hen Konflikt austragen?“Sollte es beim Abzugsterm­in 31. August, also kommender Dienstag, bleiben, werde man die eigenen Truppen an diesem Donnerstag abziehen, hieß es in Paris.

Genau dies sei das Problem des Termins binnen Wochenfris­t, analysiert Patricia Lewis vom Londoner Thinktank Chatham House auf Frage dieser Zeitung: „Die Rettungsak­tion muss sehr bald zu Ende gehen.“Übers Wochenende und bis zum Termin am Dienstag sind die Truppen vor Ort – derzeit annähernd 7000 Amerikaner und rund 1000 Briten, dazu kleinere deutsche, französisc­he, norwegisch­e und türkische Kontingent­e sowie 800 Nato-Bedienstet­e – damit beschäftig­t, ihre eigenen Leute und das dazugehöri­ge Material auszuflieg­en. Für die Zukunft müsse das Hauptaugen­merk darauf liegen, betont Lewis’ Kollege Hameed Hakimi, die Entwicklun­g Afghanista­ns politisch zu beeinfluss­en. Nicht zuletzt brauche das Land weiterhin finanziell­e Unterstütz­ung: 75 Prozent aller Staatsausg­aben für Schulen, Krankenhäu­ser und andere Infrastruk­tur werde aus internatio­naler Hilfe, vor allem aus dem Westen, bestritten. „Und ich sehe keinen Appetit in der Region, auch nicht bei Russland und China, anstelle des Westens einzusprin­gen.“

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FOTO: JANINE SCHMITZ/IMAGO IMAGES Bundesauße­nminister Heiko Maas (SPD) während der G7-Videokonfe­renz.

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