Fachfremde Tätigkeiten und Zukunftsangst
Die Misere bei der dualen Ausbildung lässt sich längst nicht nur auf Corona schieben
●
BERLIN - Die duale Ausbildung steht unter Druck. „Pandemiebedingt erleben wir neue Negativrekorde“, sagte Elke Hannack, stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), am Mittwoch in Berlin. Im Juli dieses Jahres seien bundesweit noch 127 000 gemeldete Bewerber und Bewerberinnen unversorgt gewesen. Weniger als eine halbe Million duale Ausbildungsverträge wurden nach Angaben des Statistischen Bundesamtes im vergangenen Jahr geschlossen. Das ist der niedrigste Wert seit Beginn der statistischen Erfassung vor 40 Jahren. „Das kann und darf sich dieses Land nicht leisten“, so Hannack, „die duale Ausbildung ist ein Eckpfeiler für den Erfolg der Wirtschaft hierzulande.“Eine massive Erholung des Marktes, die den Verlust kompensieren könnte, sei aus DGB-Sicht nicht realistisch. Aussagekräftige Zahlen für 2021 werden Ende September erwartet.
Dass im vergangenen Jahr weniger Ausbildungsverträge geschlossen wurden, liegt auf der Hand. Hotels und Restaurants beispielsweise waren über mehrere Monate hinweg geschlossen, wodurch sich der Personalbedarf reduziert hat. Das spiegelt sich auch in den Zahlen wider: 2020 unterschrieben 61 Prozent weniger Personen einen Ausbildungsvertrag zur Tourismusfachkraft als noch im Jahr davor. Bei Hotelfachkräften gingen die Zahlen um etwa ein Drittel zurück, bei Köchen und Köchinnen um ein Fünftel. Zuwächse gab es in Teilbereichen des Handwerks – beispielsweise bei Dachdeckern und Zweiradmechatronikern.
Für den allgemeinen Zustand des Ausbildungsmarktes reicht Corona als Erklärung allerdings nicht aus. Die Zahl der geschlossenen Verträge sinkt seit mehr als zehn Jahren kontinuierlich – auch im Gastgewerbe. Verzeichneten die Betriebe dort im Jahr 2007 noch etwa 46 000 Ausbildungsabschlüsse, waren es 2019 knapp 22 000. Den Grund dafür sieht der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) vor allem im demografischen Wandel. Tatsächlich
geht die Zahl der Schulabgänger seit Jahren zurück – jedoch nicht dem Azubi-Schwund entsprechend.
Vielmehr seien unpopuläre Arbeitsbedingungen das Problem, sagt Frank Meng. Er forscht am Zentrum für Arbeit und Politik der Universität Bremen, beschäftigt sich dort mit Ausbildungsfragen. Dass die Bedingungen sich zuletzt für viele Auszubildende verschlechtert haben, legt eine repräsentative Studie nahe, die der DGB am Mittwoch vorgestellt hat. Unter 1000 befragten Auszubildenden berichten demnach drei Viertel von höheren Belastungen durch die Corona-Krise, ein Drittel habe akute Zukunftsängste. Außerdem müssten viele Auszubildende verstärkt fachfremde Aufgaben übernehmen. Selbst Kürzungen von Vergütung und Urlaub kämen vor.
Es sind Ergebnisse, die kaum neue Bewerber anlocken dürften. Aber was machen diejenigen, die früher beispielsweise eine Ausbildung im Gastgewerbe absolviert hätten? Meng sieht einerseits eine Verlagerung in Richtung anderer Berufe. Profitiert habe in den vergangenen Jahren die Ausbildung für Büroberufe. Zudem verweist er auf das gestiegene Interesse an einem Studium – vor allem bei Frauen. Grundsätzlich, sagt der Experte, sei die Krise auf dem Ausbildungsmarkt auch eine Geschlechterfrage. Klammert man das Corona-Jahr 2020 aus, ging die Zahl der geschlossenen Ausbildungsverträge bei Frauen seit 2011 um 18 Prozent zurück, bei den Männern um drei Prozent.
In Zahlen allein lässt sich das Problem aber nicht ausdrücken. So haben in Corona-Zeiten zwar auch die Unternehmen ihre Ausbildungstätigkeit zurückgefahren, aber grundsätzlich gibt es – zumindest theoretisch – genug Plätze. 480 500 Plätze haben deutsche Firmen nach Angaben der Bundesagentur für Arbeit zwischen Oktober 2020 und Juli dieses Jahres gemeldet. Dem gegenüber stehen 404 500 Ausbildungsinteressierte. Oft finden beide Seiten aber nicht zueinander – Passungsprobleme nennen Experten das. Das kann konkret zum Beispiel bedeuten: Dem Betrieb reicht der Schulabschluss des Bewerbers nicht aus. Oder andersrum: Die Bewerberin ist mit den Arbeitsbedingungen nicht zufrieden. Die Folge ist ein Mangel auf beiden Seiten.
Kurzfristig hat die Bundesregierung mit dem Programm „Ausbildungsplätze sichern“finanzielle Anreize für Unternehmen geschaffen, die auch während der Corona-Krise ausbilden. Hannack erneuerte am Mittwoch die DGB-Forderung nach einer gesetzlichen Ausbildungsgarantie. Der Dehoga hofft längerfristig auf eine „politische Offensive“für die duale Ausbildung. Ausbildungsbetriebe müssten stärker unterstützt werden, Berufsschulen bräuchten zeitgemäßen digitalen Unterricht. Übernahmegarantien, wie sie der DGB-Jugendreferent Joscha Wagner fordert, bezeichnet eine DehogaSprecherin hingegen als „Zwangsmaßnahmen“, die abzulehnen seien.
Frank Meng appelliert an die Arbeitgeber: „Der Handwerksbetrieb könnte sich zum Beispiel fragen: Wie können wir für junge Frauen attraktiver werden?“Zukünftig werde es vor allem um das Image der Ausbildung gehen. „Azubis ist es wichtig, wie sie wahrgenommen werden und ob man sie auf Augenhöhe anspricht. Wir sind im 21. Jahrhundert, der Azubi als Brötchenholer hat ausgedient.“Wer schlecht behandelt werde, breche seine Ausbildung nicht nur überproportional oft ab, sondern berichte auch von seinen Erfahrungen – mit abschreckender Wirkung für andere.