Der Mann, der kein Gesicht vergisst
Michael Aschenbrenner arbeitet als Super-Recogniser für die Stuttgarter Polizei
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STUTTGART (dpa) - Sieht man einmal von seinem braunen Schnurrbart ab, ist Michael Aschenbrenner eher von der unauffälligen Sorte. Ruhige Stimme, adrette Frisur, angenehme Art. Kein Gesicht, das man sich zwangsläufig einprägt. Dafür prägt sich der 32-Jährige andere Gesichter umso besser ein. Michael Aschenbrenner ist ein sogenannter SuperRecogniser bei der Stuttgarter Polizei. Das bezeichnet eine ebenso einfache wie besondere Gabe: Er kann besonders gut Gesichter wiedererkennen. Etwa zwei Prozent der Bevölkerung besitzen diese Fähigkeit. Michael Aschenbrenner ist einer davon.
Eher durch Zufall fand die Wissenschaft vor wenigen Jahren heraus, dass es Menschen gibt, die Gesichter nicht vergessen oder auf noch so verschwommenen Fotos Menschen wiedererkennen können. Im Kampf gegen Verbrechen kann das nützlich sein. Polizisten werden geflutet mit verwackelten Fahndungsfotos und dunklen Bildern aus Überwachungskameras, auf denen nur Konturen zu erkennen sind. Dann kommt Michael Aschenbrenner ins Spiel. Er koordiniert rund 50 Super-Recogniser allein im Polizeipräsidium Stuttgart. Sie können Gesichter von Verdächtigen nicht nur auf Bildern identifizieren, sondern auch in Menschenmassen besonders gut wiedererkennen.
Was ein wenig nach Superheldencomics und actionreichem Abenteuer klingt, gestaltet sich im Alltag als eher dröge Tätigkeit. Michael Aschenbrenner sitzt in seinem Büro im Präsidium und blickt auf den Bildschirm. An der Wand hängt ein Zertifikat der Londoner University of Greenwich, das ihn als Super-Recogniser auszeichnet. Ansonsten: graue Wände, graue Möbel, graues Hemd. Nur die Fahndungsfotos auf den Bildschirmen leuchten bunt. Michael Aschenbrenners Augen zucken zwischen den Bildern hin und her, er gleicht sie ab mit den Fotos aus dem Archiv. „Irgendwann brennen die Augen“, sagt er. Trotzdem liebt er seinen Job. Das liegt auch am Erfolg der jungen Spezialistentruppe.
Die Stuttgarter Krawallnacht war der Lackmustest für die örtlichen Super-Recogniser. „Das war unsere Feuertaufe“, sagt Michael Aschenbrenner. Ein halbes Jahr waren er und seine Kollegen abgeordnet, um Tausende verwackelte Aufnahmen von Gewalttätern und Randalierern zu durchforsten. Von den 140 Tatverdächtigen, die bislang ermittelt wurden, gehen rund die Hälfte auf das Konto der Wiedererkenner.
Das baden-württembergische Innenministerium setzt immer mehr auf die Super-Recogniser. Beamte mit dieser Begabung sollen künftig flächendeckend an allen Polizeipräsidien im Land eingesetzt werden. „Dieses Potenzial wird uns helfen, mehr Kriminelle zu identifizieren und damit der Strafverfolgung zuzuführen“, sagte Innenminister Thomas Strobl (CDU) im Frühjahr. Mittlerweile kann jeder Polizeischüler sich auf die Begabung testen lassen. Die Londoner Polizei hat bereits vor Jahren eine Einheit aufgestellt, auch die Polizei in Hessen und Bayern nutzt die Wiedererkenner.
Eine ganz ähnliche Arbeit macht Friedrich Rösing aus Blaubeuren. Der 77-jährige Professor ist einer der wenigen forensischen Anthropologen in Deutschland. Friedrich Rösing hilft in Gerichtsprozessen, Täter auf Fotos zu identifizieren und damit zu überführen. Sogar eineiige Zwillinge könne sein Berufsstand fast immer unterscheiden, sagt er. Und: Er begrüße die Arbeit der Super-Recogniser. Eine Konkurrenz durch die Menschen mit dem angeborenen Talent fürchtet er nicht. Vor Gericht brauche es weiterhin den forensischen Anthropologen, so Friedrich Rösing. Im Gegensatz zu Michael Aschenbrenner geht er wissenschaftlich-methodisch vor, er hangelt sich an 260 Merkmalen entlang: Steht das Ohr ab? Hängt der Nasenboden? Ist der Mund schräg?
Bei Michael Aschenbrenner hingegen macht es einfach „klick“– dann weiß er, dass er ein Gesicht schon mal gesehen hat. So wie bei der Polizeiübung in der Stuttgarter Innenstadt, als er zufällig ein Gesicht in der Menge entdeckte, bei dem es ebenfalls „klick“machte. Die Übung wurde spontan zum Echtfall. Michael Aschenbrenner und seine Kollegen nahmen einen Mann fest, der wegen eines Drogendelikts gesucht wurde. Immer wieder ist er auch draußen im Einsatz, hält etwa Ausschau nach Taschendiebbanden auf dem Weihnachtsmarkt oder nach Hooligans im Stadion. Um sich Gesichter zu merken, ordnet er ihnen Charaktereigenschaften zu oder assoziiert sie mit einem guten Freund oder einem Schauspieler. Aber sein Talent ist auf den visuellen Bereich beschränkt. „Namen“, verrät er, „kann ich mir überhaupt nicht merken.“