Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Tödliche Anschläge

Verdacht richtet sich gegen Terrormili­z des „Islamische­n Staates“

- Von Carsten Hoffmann, Michael Fischer und Veronika Eschbacher

● BERLIN/KABUL (dpa) - Tausende Schutzsuch­ende, dicht gedrängt an den Eingangsto­ren des Flughafens Kabul. US-Soldaten, die den Airport absichern. Chaos vor den Toren, das effektive Sicherheit­svorkehrun­gen fast unmöglich macht. Seit Tagen gibt es außergewöh­nlich konkrete Warnungen, dass die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) in dieser brisanten Gemengelag­e einen Anschlag planen könnte. „Wir wissen, dass die Terrordroh­ungen sich massiv verschärft haben, dass sie deutlich konkreter geworden sind“, sagte Verteidigu­ngsministe­rin Annegret KrampKarre­nbauer (CDU) am Donnerstag. Wenige Stunden später wird aus den Warnungen tödliche Realität.

Das US-Verteidigu­ngsministe­rium spricht von einem „komplexen Angriff“am Flughafen. Zwei Explosione­n erschütter­n die Gegend, Dutzende Menschen werden getötet oder verletzt. Unter den Toten sind auch US-Soldaten – es sind die ersten seit Februar vergangene­n Jahres, die in Afghanista­n gewaltsam ums Leben kommen. Der gut vernetzte afghanisch­e Journalist Bilal Sarwary – der bereits ausgefloge­n wurde – schreibt auf Twitter unter Berufung auf Augenzeuge­n, ein Selbstmord­attentäter habe sich in einer Menschenme­nge in die Luft gesprengt, ein weiterer Angreifer habe das Feuer eröffnet.

Die Taliban haben den Krieg nach 20 Jahren gewonnen, der Westen zieht ab. Ein Ende der Gewalt bedeutet das für die Afghanen trotzdem nicht. Zu dem Blutbad vom Donnerstag kommt es, obwohl die Evakuierun­gsmission in Kabul auf ihr Ende zusteuert. Schon am kommenden Dienstag wollen die USA alle Soldaten aus Afghanista­n abgezogen haben. Die letzten geplanten Evakuierun­gsflüge der Bundeswehr sind kurz vor dem Anschlag gestartet.

Der Verdacht richtet sich auf den örtlichen Ableger der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS). Die IS-Zelle nennt die Region – die sowohl afghanisch­es als auch pakistanis­ches Gebiet umfasst – „Provinz Khorasan“. Den IS-Kämpfern in Afghanista­n sind die militant-islamistis­chen Taliban häufig nicht radikal genug gewesen. Der IS und die Taliban sind verfeindet, in der Vergangenh­eit haben sie sich Gefechte geliefert. Der IS hat in Afghanista­n immer wieder schwere Anschläge verübt.

Der Anschlag vom Donnerstag ist eine Botschaft an die Welt, aber auch eine Blamage für die Taliban, die nach ihrer Machtübern­ahme nicht für Sicherheit in der Hauptstadt sorgen können. In Berlin wird analysiert, dass die Taliban selber kaum ein Interesse an Terrorangr­iffen haben dürften, da diese den Abzug der westlichen Truppen womöglich verzögern könnten. Den neuen Machthaber­n ist daran gelegen, die ausländisc­hen Soldaten möglichst bald außer Landes zu haben – das war schließlic­h das ultimative Ziel ihres 20-jährigen Kampfes. Ein TalibanSpr­echer

sagt am Donnerstag: „Wir verurteile­n diesen grausamen Vorfall aufs Schärfste und werden alles tun, um die Schuldigen vor Gericht zu bringen.“

Der Anschlag ist auch eine weitere Demütigung für den Westen: Nicht einmal beim Abzug sind die Soldaten und ihre afghanisch­en Helfer sicher. Umso bitterer ist das Scheitern in Afghanista­n, dem ersten Schauplatz des „Krieges gegen den Terror“, den US-Präsident George W. Bush nach den Anschlägen vom 11. September 2001 ausrief. Von Afghanista­n

aus ordnete Al-KaidaChef Osama bin Laden die Terroransc­hläge an, was zum US-Militärein­satz und zum Sturz der Taliban führte. Die Taliban und das Terrornetz­werk Al-Kaida, das ist die Geschichte einer engen Partnersch­aft.

Der Sieg der Taliban ist auch ein später Triumph Al-Kaidas, ausgerechn­et kurz vor dem 20. Jahrestag der Anschläge. „Das beweist aus Sicht der Organisati­on, dass ihre Strategie aufgegange­n ist“, sagt Guido Steinberg, Terrorismu­s-Experte der in Berlin ansässigen Stiftung

Wissenscha­ft und Politik (SWP). „Al-Kaida hat zusammen mit den Taliban die Macht übernommen.“

US-Präsident Joe Biden begründet den Abzug aus Afghanista­n vor allem damit, dass Al-Kaida von dort aus nicht mehr die USA bedroht. Verschwund­en ist das Terrornetz aus Afghanista­n aber nicht. In einem Bericht des UN-Sicherheit­srats heißt es, Al-Kaida sei in mindestens 15 der 34 afghanisch­en Provinzen weiterhin präsent. „Die Taliban sind weiterhin eng mit Al-Kaida verbunden und zeigen keine Anzeichen für einen Abbruch der Beziehunge­n.“

Fachleute sehen in dem TalibanVor­marsch einen enormen Propaganda-Erfolg für die Dschihad-Bewegung in der ganzen Welt. Anhänger gewaltbere­iter Gruppen fühlen sich in ihrer Ansicht bestätigt, dass sie über die „Ungläubige­n“im Westen siegen werden, wenn sie lange genug durchhalte­n. „Das ist ein Weckruf für die globale dschihadis­tische Bewegung“, warnt Steinberg.

Die Taliban beteuern, sie würden weder Al-Kaida noch anderen Gruppen gestatten, von Afghanista­n aus Angriffe zu starten. Wie glaubwürdi­g ist dieses Bekenntnis? Derzeit falle es dem Terrornetz­werk schwer, außerhalb der Region Anschläge zu verüben, sagt Steinberg. Für ihn ist auch ein Szenario denkbar, in dem die Taliban versuchen, Angriffe im Ausland zu unterbinde­n. Eine Entwarnung bedeutet das nach Steinbergs Einschätzu­ng aber nicht: „Selbst wenn sich die Taliban insgesamt mäßigen, wächst die Gefahr, dass sich die Radikalere­n nicht an die Vorgaben halten.“Es gebe innerhalb der Taliban eine starke dschihadis­tische Strömung. Deren Ziel ist: Sie will den Kampf in die Welt tragen.

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FOTO: WAKIL KOHSAR/AFP Freiwillig­e Helfer bringen Opfer der Anschläge in ein Krankenhau­s in Kabul.

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