Wahlkampf hinter Gittern
Ein halbes Jahr nach seiner Inhaftierung gibt sich Kreml-Kritiker Nawalny in einem Interview kämpferisch
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MOSKAU - Alexej Nawalny hat aus dem Gefängnis ein ausführliches Interview gegeben. Darin schildert der prominente Kreml-Kritiker seinen Haftalltag. Aber vor allem attackiert er Wladimir Putin.
Die Tagesordnung in der Strafanstalt Nr. 3 in Pokrow gefällt Alexej Nawalny. Er sei Frühaufsteher, beginne seinen Tag um 5 Uhr morgens, um zu lesen, gehe hier nie später als um 22 Uhr schlafen. In Russlands Politikerkreisen stünden alle erst gegen Mittag auf, die Sitzungen aber dauerten bis in die Nacht. „Endlich lebe ich in der Tageszeit, die mir passt.“
Seit Februar sitzt der russische Oppositionsführer in Pokrow etwa hundert Kilometer östlich von Moskau, eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren und acht Monaten ab. Und nun veröffentlichte die „New York Times“ein schriftliches Interview mit Nawalny. Auf 54 handschriftlichen Seiten schildert er seinen Alltag hinter Gittern, äußert sich zur politischen Lage und greift Präsident Wladimir Putin an. Nawalnys Tonlage ist humorund hoffnungsvoll. Und offenbar ist er entschlossen, den von ihm ausgerufenen Zweikampf gegen Putin auch hinter Gittern fortzusetzen.
Gesundheitlich gehe es ihm gut, seit man unabhängige Ärzte zu ihm lasse. Man habe aufgehört, ihn nachts stündlich zu wecken, kontrolliere seine Anwesenheit nur noch alle zwei Stunden und lasse ihn dabei meist schlafen. Aber er verstehe jetzt, warum Schlafentzug eine der Lieblingsfoltern der Sicherheitsdienste ist. Geprügelt werde in Pokrow nicht, aber es herrsche quälende Pedanterie. Um 6 Uhr Wecken, danach Abspielen der Nationalhymne auf dem Gefängnishof, Sport, Morgenwäsche, Frühstück, um 8 Appell auf dem Hof, Fernsehen bis 10 Uhr, Freizeit bis 12 Uhr, danach wieder Bildung per TV oder Brettspiele. Schlafen oder Lesen sei dabei verboten, um 14 Uhr Mittagessen, wieder Fernsehbildung, um 16.30 Uhr
Abendappell, ab 18 Uhr „patriotische Erziehung“: Filme über Siege sowjetischer Soldaten oder Sportler. „Da wird einem das Wesen der putinschen Ideologie besonders klar: Sie ersetzt Gegenwart und Zukunft durch die Vergangenheit, wirklich heroische Vergangenheit, geschönt heroische Vergangenheit oder komplett erfundene Vergangenheit.“19.30 Uhr Abendessen, danach noch eine TV-Lektion. „Eigentlich tust du den ganzen Tag nichts, aber am Abend bist du völlig entkräftet.“
Wie groß das Risiko sei, dass man ihn im Gefängnis töte? Nawalny antwortet, er grinse beim Lesen. „50 Prozent“, zitiert er einen russischen Witz. „Entweder ich werde getötet oder nicht.“
Aber man habe es mit einem psychisch kranken Putin zu tun, der sich von Astrologen und Schamanen beraten lasse. „Ein pathologischer Lügner mit Größen- und Verfolgungswahn.“Alle Nationalprojekte Putins wären gescheitert, selbst sein Projekt „Lasst uns Nawalny umlegen“. Putin sei eine historische Zufälligkeit, ein Fehler der korrupten JelzinFamilie, der am Ende korrigiert werde. „Und Russland kehrt auf seinen demokratischen, europäischen Entwicklungsweg zurück. Einfach, weil das Volk es so will.“
Seit seiner Festnahme im Januar ist die Zustimmungsrate für Nawalnys