Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Der große Milchshake-Mangel

Weil ihnen die billigen EU-Arbeitskrä­fte fehlen, leiden die Briten unter Lebensmitt­elengpässe­n

- Von Sebastian Borger

LONDON - Der Sainsbury’s-Supermarkt im Nord-Londoner Stadtbezir­k Harringay an einem ganz normalen Werktag zur Mittagszei­t: In den Regalen klaffen Lücken. Egal, ob frische Milch, gekühlte Fertiggeri­chte oder monatelang haltbare Nudeln – überall ist die bunte Vielfalt der Konsumente­n stark eingeschrä­nkt. Die Momentaufn­ahme vom Mittwoch dieser Woche wiederholt sich seit Wochen allerorten auf der Insel. Tankstelle­n bleiben geschlosse­n, in Supermarkt­Regalen herrscht gähnende Leere. Diese Woche machte McDonald’s Schlagzeil­en: Wegen „vorübergeh­ender Lieferprob­leme“muss die durstige Kundschaft bis auf Weiteres auf ihre angestammt­en Milkshakes verzichten.

Wegen der andauernde­n Versorgung­sschwierig­keiten schlagen jetzt Firmen und Lobbyverbä­nde wie der Industriev­erband CBI Alarm: Der Lagerbesta­nd im Einzelhand­el befindet sich auf dem niedrigste­n Niveau seit fast vier Jahrzehnte­n. Sogar EU-feindliche Medien müssen einräumen: Der Brexit gehört zu den wichtigste­n Gründen für die mittlerwei­le dramatisch­en Engpässe. „Das lässt sich nicht mehr als kurzzeitig­es Problem abtun“, warnt Andrew Sentance von der Beratungsf­irma Cambridge Econometri­cs. „Diese Situation könnte länger andauern, als die Leute meinen.“

Aber wie lang? Auf die weiße Weihnacht verzichten die Briten schon seit Jahr und Tag. Diesmal könnte es zusätzlich zur Schlacht um die wichtigste Zutat zum traditione­llen englischen Festessen kommen: Wenn die Branche weiterhin so eklatanten Personalma­ngel erleide, könnten bis Dezember ein Fünftel der jährlich verzehrten Truthähne fehlen, warnt der Geflügelzü­chterverba­nd BPC in einem Brandbrief an Innenminis­terin Priti Patel. Das für Einwanderu­ng zuständige Ministeriu­m hat nämlich gering Qualifizie­rte zu unerwünsch­ten Personen erklärt. Gerade diese aber seien „für die Aufrechter­haltung der Ernährung im Land ungemein wichtig“, erläutern die Züchter.

Truthähne mögen nicht gerade als Grundnahru­ngsmittel gelten, doch die Klage der Branche ist bei Weitem kein Einzelfall. Verbrauche­rmärkte, die Bauindustr­ie, Obst- und Gemüsebaue­rn, die Gastronomi­e – überall fehlen seit Jahresbegi­nn günstige Arbeitskrä­fte. Die Brexit-Regierung unter Premier Boris Johnson hat nach Kräften versucht, das Problem kleinzured­en oder der Corona-Pandemie in die Schuhe zu schieben. Immer klarer aber kristallis­iert sich als Hauptgrund der EU-Austritt heraus: Mit dem endgültige­n Verlassen von Binnenmark­t und Zollunion haben EUBürger seit 1. Januar die Freizügigk­eit auf der Insel verloren.

Nun fehlen der polnische Klempner und die rumänische Altenpfleg­erin, die spanische Kellnerin und der belgische Putzmann. Über die vergangene­n Jahrzehnte haben Millionen vor allem junger Kontinenta­leuropäer auf der Insel die schlecht bezahlten Jobs gemacht, zu denen die einheimisc­he Bevölkerun­g nicht zu überreden ist. Ein österreich­ischer Geschäftsm­ann bringt seine wenig schmeichel­hafte Meinung über die Arbeitsmor­al der örtlichen Bevölkerun­g unverblümt auf den Punkt: „Der Engländer an sich arbeitet ja nicht so gerne. Ohne Europäer läuft hier wenig bis nix.“Wenn die Regierung gerade kleineren Geschäften, Restaurant­s und Cafés angesichts der dauernden Personalno­t nicht bald unter die Arme greife, „gehen hier viele Businesses hops“.

Das neue, flugs nach dem Brexit verabschie­dete Einwanderu­ngssystem der Regierung setzt dem Zuzug billiger Arbeitskrä­fte enge Grenzen. Von einzelnen Kontingent­en für Branchen wie die Landwirtsc­haft abgesehen müssen Antragstel­ler bestehende Arbeitsang­ebote mit Mindestein­kommen vorweisen. Lobbyverbä­nde der Nahrungsmi­ttel- und Gaststätte­nindustrie möchten stattdesse­n gerade jüngere Leute mit einem System anlocken, wie es zwischen Großbritan­nien und Australien besteht.

Junge Engländer erhalten zeitlich begrenzte Visa für den fünften Kontinent, die ausdrückli­ch die Möglichkei­t zur Arbeitssuc­he einschließ­en.

Hingegen hoffen die Gewerkscha­ften auf höhere Einkommen für einheimisc­he Arbeitskrä­fte. Tatsächlic­h bezahlen Supermarkt­ketten und Warenhäuse­r vielerorts schon Begrüßungs­gelder für neue Arbeitskrä­fte. Der US-Gigant Amazon begnügt sich für Paketpacke­r mit Prämien von bis zu 1000 Pfund (1168 Euro), ausgebilde­te Techniker beim Energiekon­zern British Gas erhalten das Dreifache.

Erfahrenen Lastwagenf­ahrern bieten Supermarkt­ketten ebenfalls vierstelli­ge Einstellun­gszahlunge­n. Denn bei den Brummis macht sich der Mangel am eklatantes­ten bemerkbar. Seit sich das Großbritan­nien-Geschäft für viele qualifizie­rte EU-Kraftfahre­r nicht mehr lohnt, fehlt ein Sechstel der rund 600 000 Menschen, die laut Branchenve­rband RHA für den Warentrans­port

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FOTO: SEBASTIAN BORGER Eingeschrä­nkte Vielfalt: Die Briten erleben seit Wochen vielerorts Engpässe in den Supermärkt­en.

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