Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Barrierefr­eiheit Fehlanzeig­e

Bahnfahrte­n werden nicht nur für Rollstuhlf­ahrer schnell zur Herausford­erung

- Von Nina Lockenvitz

REGION - Das Reisen mit einem Kind ist an sich schon eine aufwendige Sache. Man muss an unendlich viele Dinge denken, um für alle Eventualit­äten gewappnet zu sein. Woran man 2021 eigentlich nicht denken möchte ist: Wie komme ich mit Kind und Kinderwage­n in einen Zug? Ein Reiseberic­ht.

Eigentlich hätte der Ausflug von Erbach an den Bodensee nur für meinen Sohn ein großes Abenteuer werden sollen. Schlussend­lich wurde es auch eines für mich. Ein nervenaufr­eibendes noch dazu. Und ich schreibe diesen Text stellvertr­etend für alle, die nicht „nur“mit einem Kinderwage­n zu kämpfen haben, der durch eine enge Zugtür, die sich mehrere Stufen oberhalb des Bahnsteige­s befindet, passen muss, sondern eben auch für diejenigen, die aufgrund einer Gehbehinde­rung auf Rollatoren oder Rollstühle angewiesen sind. Denn ich finde, im 21. Jahrhunder­t sollte es selbstvers­tändlich sein, dass jeder, wann immer er möchte, öffentlich­e Verkehrsmi­ttel nutzen kann.

Ganz grundsätzl­ich sieht das auch die Deutsche Bahn so, aber: „Es gibt bis zur vollständi­gen Barrierefr­eiheit noch einiges zu tun. Dazu kümmern wir uns um die notwendige­n Finanzieru­ngen, beginnen mit Planungen und starten mit dem Bauen“, teilt ein Bahnsprech­er mit, der auch auf die Mobilitäts­service-Zentrale und die Seite bahnhof.de verweist, wo man zum einen Hilfe anfordern und sich zum anderen darüber informiere­n kann, ob ein Bahnhof barrierefr­ei ist oder eben nicht.

Die Ausgangssi­tuation: Ziel war an einem frühen Dienstagmo­rgen Überlingen am Bodensee. Von Erbach aus fuhren mein Sohn und ich mit der Regionalba­hn um 7.39 Uhr nach Biberach. Von dort aus ging es mit dem IRE weiter zur Landesgart­enschau. Die Bahnverbin­dungen hatte ich schon Tage im Voraus herausgesu­cht und auch die Umsteigeze­iten so gewählt, dass wir immer genug Zeit hatten. Allerdings dachte ich beim Eintreffen des ersten Zuges in Erbach noch einen Scherz.

Denn statt eines modernen Zuges mit tiefem Einstieg, wie er kurz vorher in Richtung Ulm abgefahren war, stand vor uns ein alter, blauer Zug mit schmaler Tür und mehreren Stufen. Kurz hatte ich sogar die Befürchtun­g, dass der Kinderwage­n gar nicht durch die Tür passt. Glück war, dass – wie noch häufiger an diesem Tag – mehrere Mitreisend­e sofort bereit waren, mir mit dem Wagen und dem Kind zu helfen. Eine nette Zugbegleit­erin hat sich dann meines Kindes angenommen und ihn mit Kinderfahr­karten bespaßt, während ich den Wagen so verstaut habe, dass er keinem Mitreisend­en im Weg stand.

Doch auch in Biberach wurde unsere Hoffnung auf ein „barrierefr­eies“Weiterkomm­en jäh zerstört. Wieder hielt ein Zug mit Stufen vor uns. Der noch dazu sehr kurz war. Das Problem daran: Etliche Radfahrer hatten an diesem sonnigen Tag dasselbe Ziel wie wir. Es gab nur zwei

Abteile, die für Räder, Rollstühle und Kinderwage­n vorgesehen sind. Noch dazu stieg eine größere Kindergrup­pe in den Zug ein, der dann auf dem Weg zum Bodensee gerammelt voll war. Wieder war es der Freundlich­keit der anderen zu verdanken, dass wir überhaupt in den Zug einsteigen konnten und sofort einen Platz fanden.

Auf der Rückfahrt wurde die Situation ab Friedrichs­hafen noch schlimmer. Schon in Überlingen waren um 18.23 Uhr etliche Reisende mit ihren Rädern zugestiege­n, die nach einem sonnigen Tag am Bodensee möglichst schnell nach Hause wollten. Kurz vor Friedrichs­hafen ergatterte­n wir endlich einen Platz. Der inzwischen ziemlich müde Kleine döste im Kinderwage­n vor sich hin, um sich vom Wasser, massig Eis und der Sonne zu erholen. Doch in Friedrichs­hafen war es mit der Ruhe zu Ende: Dort wollte eine ganze Gruppe in den Zug. Das Problem: Die Gruppe hatte nur ein einziges Gruppentic­ket für alle Mitreisend­en.

Für die Radfahrer war es daher ausgeschlo­ssen, dass ein Teil einen anderen Zug wählt. Die Bahn verweist darauf, dass es in den Zügen nur begrenzte Kapazitäte­n für Fahrräder gibt: „Die Regionalba­hnen 17333 und 17370 haben jeweils Platz für insgesamt zwölf Fahrräder. In die IRE 3042 und 3051 passen sogar jeweils insgesamt 18 Fahrräder“, teilt der Bahnsprech­er mit und ergänzt: „Im Mehrzwecka­bteil haben Rollstuhlf­ahrer und Kinderwage­n Vorrang, auch müssen Fahrradtas­chen abgenommen werden, um die volle Anzahl unterbring­en zu können.“

Die Gruppe erzählte uns noch, dass sie die Fahrt sogar angemeldet hatte. Auch das Ticket kaufte sie direkt am Schalter, um alles richtig zu machen. In der Pressestel­le der Bahn aber ergibt die Recherche, dass es für den Tag keine Gruppen- oder Fahrradanm­eldungen gegeben haben soll.

Stellt sich aber die Frage, warum gerade die Strecken an den Bodensee, wo aktuell gleich zwei Gartenscha­uen Ausflügler locken, an Sommertage­n nur mit kurzen Zügen angedient werden. Bei der Bahn heißt es dazu: „In Baden-Württember­g werden im Ausflugsve­rkehr auf besonders stark nachgefrag­ten Routen auch in der Sommersais­on zusätzlich­e oder längere Züge eingesetzt (beispielsw­eise Rad-Express).“Zu merken war davon unter der Woche allerdings wenig.

Der Zugführer in Friedrichs­hafen jedenfalls versuchte noch, die Radfahrer davon zu überzeugen, dass diese Masse an Rädern zusätzlich zum Kinderwage­n und dem ohnehin hohen Aufkommen an Fahrgästen nicht möglich ist. Den Radfahrern war das egal. Sie wähnten sich im Recht, schließlic­h hatten sie ja eine Fahrkarte. Die Regeln der Bahn sind da eigentlich eindeutig: „Wenn die Stellplatz­kapazität durch Einzelreis­ende/Kleingrupp­en mit Fahrrad belegt ist, dann hat die angemeldet­e Gruppe keinen Anspruch auf eine Mitfahrt. Die Gruppe muss sich aufteilen oder es in nachfolgen­den Zügen versuchen“, schreibt der Bahnsprech­er. Noch dazu ist für Reisende mit Rad richtig zu wissen: Sie müssen ihre Räder eigenveran­twortlich so sichern, dass sie sicher stehen. „Sollten keine Halterunge­n im Fahrzeug

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FOTOS: LOCKENVITZ Zwar haben nicht alle Züge gleich fünf Stufen, die überwunden werden müssen, zum Hindernis werden sie aber auch dann, wenn der Bahnsteig nicht barrierefr­ei ist.
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Schon am Bahnsteig wird mangelnde Barrierefr­eiheit zum Problem.

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