„Bitte nie mehr Geisterspiele!“
Nach eineinhalb Jahren vor leeren Rängen durfte Stephan Lehmann wieder Tausende Fans in der Allianz Arena begrüßen – Für den Stadionsprecher war es ein emotionales Spiel
MÜNCHEN - Endlich wieder Fans. Der 22. August 2021 wird Stephan Lehmann lange in Erinnerung bleiben. Nach fast eineinhalb Jahren, in denen der Stadionsprecher des FC Bayern vor leeren Rängen die Mannschaftsaufstellungen und Torschützen durchsagte, durfte er am vergangenen Sonntag endlich wieder 20 000 Fans in der Allianz Arena begrüßen. Warum der Tag für ihn besonders emotional war, wie er über die Pfiffe gegen Leory Sané denkt und welche Hoffnungen er für die Saison hat, erklärt die „Stimme des Südens“im Gespräch mit Martin Deck.
Herr Lehmann, die Partie gegen den 1. FC Köln war das erste Pflichtspiel seit dem 8. März 2020 mit mehr als 250 Zuschauern. Wie hat es sich für Sie angefühlt, endlich wieder mit 20 000 Fans kommunizieren zu können?
Ich habe es sehr genossen, es war geradezu ein befreiendes Gefühl. Man hat gespürt, dass die Leute, die da waren, auch wirklich gerne da waren.
Die Zuschauer sind pünktlich zu Ihrem Jubiläum zurückgekehrt. Fast auf den Tag genau vor 25 Jahren, am 21. August 1996, haben Sie das erste Mal die Mannschaftsaufstellung des FC Bayern durchgesagt. Wann waren Sie aufgeregter, damals oder heute?
Ganz klar vor 25 Jahren. In einem Vierteljahrhundert entwickelt man dann doch eine gewisse Routine. Ich erinnere mich noch genau an mein erstes
Spiel: Es ging gegen Bochum, meine erste Tordurchsage: Ruggiero Rizitelli – was ein klangvoller Name. Das war das erste Mal, dass es einen Dialog zwischen Stadionsprecher und Fans gab. Ich hatte im Vorfeld mit meinen Jungs aus der Südkurve vereinbart, dass ich den Vornamen des Torschützen rufe und sie mit dem Nachnamen antworten. Der Rest ist Geschichte: Mittlerweile gehört dieser Dialog eigentlich weltweit zum guten Ton.
Wird Ihnen dennoch auch der 22. August 2021 in Erinnerung bleiben? Ja, absolut. Ich habe es auch den Fans gesagt: Ich musste schon erst mal schlucken, weil ich mich nach diesen langen Monaten, die nicht schön waren für uns alle, so freue, dass sie alle wieder da sind. Aber es war auch vom Empfinden her anders als ein normales Heimspiel, weil es nicht nur unter dem Eindruck der Rückkehr der Fans stand, sondern vor allem unter dem Zeichen des jüngsten Tods unseres Freundes Gerd Müller.
Sie sprechen die Gedenkfeier an, mit der der FC Bayern sich vor dem Spiel von der in der Vorwoche verstorbenen Vereinsikone verabschiedete. In den vergangenen 25 Jahren haben Sie Gerd Müller persönlich kennengelernt. Wie hat es sich angefühlt, sich am Sonntag von ihm zu verabschieden?
Es war auch für mich sehr emotional. Ich kannte Gerd gut und wir hatten immer einen sehr freundschaftlichen Umgang miteinander. Wir haben unzählige gemeinsame Reisen mit dem FC Bayern gemacht, sind uns einige Mal auf der Tennisanlage begegnet und ich habe auch den Beginn seiner schweren Krankheit mitbekommen. Alle, die in kannten, wussten um seinen Zustand, der leider immer schlimmer wurde. Der Uli (Hoeneß, Anm. d. Red.) hat es am Sonntag richtig gesagt: Der Tod war nach langen, traurigen Monaten bestimmt auch eine Befreiung für ihn. Dass einem das trotzdem nahegeht – schon als ich als kleiner Junge mit zehn Jahren als Fußballfan sozialisiert wurde, war Gerd Müller mein großer Held – ist wohl verständlich. Für mich war er auch ein Stück weit anwesend an diesem Tag.
Zurück zu den Fans: So schön die Rückkehr auch war, teilweise haben sich die Anhänger gleich wieder von ihrer unschönen Seite gezeigt. Als Sie die Auswechslung von Leroy Sané bekannt gaben, gab es höhnischen Applaus. Haben Sie das und die Pfiffe zuvor registriert?
Mir persönlich tut so etwas immer weh. Ich bin der Meinung, dass der Spieler der eigenen Mannschaft es nicht verdient hat, ausgebuht oder ausgepfiffen zu werden. Allerdings muss ich auch dazu sagen: Wenn ein paar Bayern-Fans – ja, man hat sie gehört, aber es war kein gellendes Pfeifkonzert von 20 000 – enttäuscht sind von der Leistung eines Leroy Sané, ist es ihr gutes Recht ihren Unmut durch Pfiffe zu äußern. Es ist nicht meine Aufgabe, ihnen einen Maulkorb zu verpassen. Ich würde erst eingreifen, wenn es zu Schimpfwörtern und Beleidigungen kommen oder gar Gegenstände auf den Platz fliegen würden – das war aber nicht der Fall. Natürlich kann man auch über die Pfiffe diskutieren – aber nicht während eines Spiels. Hierzu braucht es einen Dialog, der ist aber nicht möglich, wenn ich ein Mikro in der Hand habe und die Fans 100 Meter entfernt sitzen und ich sie nicht höre. Ich persönlich bin der Meinung, dass Leroy Sané aktuell eine schwere Zeit durchlebt. Ich halte ihn für einen großartigen Fußballer, aber er bräuchte mal wieder ein Erfolgserlebnis. Dann kann sich alles von einem aufs andere Spiel ändern.
Wo wir schon beim Blick nach vorne sind: 20 000 Zuschauer waren am Sonntag in der Allianz Arena, 25 000 dürfen es in den nächsten Wochen wieder sein. Wie nahe kommt das einer Stimmung in der mit 75 000 Menschen ausverkauften Arena? Das ist nicht vergleichbar. Es ist einfach klar, dass 20 000 Menschen nicht die gleiche Atmosphäre und Energie bringen wie 75 000. Die, die da waren, haben das aber ganz großartig gemacht. Das Raunen, die Freude, der Jubel beim Tor – das alles spürt man auch bei einer nur zum Drittel gefüllten Arena. Deshalb war das Spiel auch ein Befreiungsschlag und ich hoffe, dass der eingeschlagene Weg nun kontinuierlich fortgesetzt wird.
Immerhin waren in München alle erlaubten Tickets verkauft, in anderen Arenen blieben hingegen viele Plätze leer. Wie erklären Sie sich diese Zurückhaltung?
Die Erklärung ist aus meiner Sicht sehr naheliegend: Was ist mit uns denn in den vergangenen eineinhalb Jahren passiert? Wir waren daheim, durften nirgends hin, Masken gehören nach wie vor zu unserem Alltag: Da hat sich natürlich eine gewisse Vorsicht verankert. Vor diesem Hintergrund darf man den Leuten nicht böse sein, dass nicht alle gleich wieder ins Stadion strömen. Erst wenn offiziell von Regierung und Wissenschaft Entwarnung gegeben wird, beginnen die Menschen, ihre gelernte Vorsicht abzulegen. Sobald sich alles wieder normalisiert – das wird aber sicher noch seine Zeit brauchen – wird auch die Fußballbegeisterung, die ja in uns steckt, zurückkehren. Da bin ich mir ganz sicher.
Auf der anderen Seite steigen die Infektionszahlen wieder. Befürchten Sie, dass Sie im Herbst wieder vor leeren Rängen stehen werden? Ich bin kein Virologe oder Epidemiologe, bei mir ist der Wunsch Vater des Gedankens. Aber wenn man den aktuell eingeschlagenen Weg der Politik anschaut, einhergehend mit der hohen Anzahl an Geimpften, dann hoffe und glaube ich, dass dieses Virus seinen Schrecken verloren hat und wir jetzt eher in die positive Entwicklung gehen. Und so kann ich klar sagen: Bitte nie mehr Geisterspiele!