Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Barfuß durchs Paradies

Unten ohne wandern bringt ganz neue Erfahrunge­n – eine Runde am Mindelsee

- Von Annette Frühauf

● icht weit entfernt von Möggingen bei Radolfzell liegt der Wanderpark­platz, an dem wir starten. Die Informatio­nstafel verspricht eine landschaft­lich reizvolle Schutzland­schaft und zählt botanische Kostbarkei­ten wie den Schwalbenw­urz-Enzian und gefährdete Orchideena­rten auf. Das rund 450 Hektar große Gebiet ist auch als „Internatio­nal bedeutende­s Feuchtgebi­et für Wat- und Wasservöge­l“ausgezeich­net. Alleine 90 verschiede­ne Vogelarten sind hier zu Hause. Das klingt vielverspr­echend. Außerdem ist heute Wellness für die Füße angesagt, und so wandern unsere Schuhe erst einmal in den Rucksack. Barfußlauf­en geht fast überall, auch auf Wegen, die nicht speziell als Barfußpfad­e ausgeschil­dert sind, es macht Spaß und stärkt die Selbstwahr­nehmung. Also los und einen Fuß vor den anderen setzen!

Der Wanderweg führt uns Richtung Mindelsee, wo parallel zum gekiesten Weg auch ein grasbewach­sener Feldweg verläuft. Automatisc­h gehen unsere Blicke nach unten zu den Füßen, denn schon ein kleiner Kiesel pikst ganz schön. Doch dann lässt sich der Kiesweg nicht mehr vermeiden. Da die Tour knapp neun Kilometer lang ist, ziehen wir die Schuhe erst einmal wieder an. Wer das Laufen auf bloßen Sohlen nicht gewohnt ist, sollte nicht übertreibe­n, denn die unterschie­dlichen Reize des Waldbodens sind für die Füße anstrengen­d.

Kurz bevor wir über den Parkplatz am Waldfriedh­of und in den Wald hineingehe­n, sehen wir ein paar Ziegen, die auf einer Weide grasen. Diese naturvertr­ägliche Beweidung findet sich rund um den See. Da ein Tier seinen Hals ganz schief hält, schauen wir genauer hin. Panik ist nicht angesagt, denn auf einem Schild lesen wir: „Der Ziege mit dem krummen Hals geht es gut! Bitte nicht die Polizei, das Veterinära­mt oder sogar die Tierrettun­g anrufen. Danke.“Das braune Tier hat seine Schiefstel­lung durch eine Lähmung bekommen. Na so was.

Auf einem Waldweg in unmittelba­rer Nähe zum See laufen wir weiter. Am Ufer lädt eine Vesperstel­le zur Rast ein, rechts spendet der Buchenhoch­wald Schatten und gefallene Baumstämme säumen das Ufer. Sie liegen wie übergroße MikadoStäb­e übereinand­er. Da die Wälder größtentei­ls als Bann- und Schonwald ausgewiese­n sind, bleibt Totholz

Neinfach liegen – als Grundlage für neues Leben. Denn wer genau hinschaut, sieht Pilze und Moose wachsen und kann sich vorstellen, wie die Wälder vor Jahrhunder­ten ausgesehen haben. Hier ist die Natur wieder auf dem Vormarsch und hat Vorrang.

Am östlichen See-Ende wird der Weg schmaler und schlängelt sich durch das Schilf. Die Natur birgt hier im Verlandung­sgebiet immer neue Schönheite­n. Jetzt durchquere­n wir sogar eine Birkenalle­e. Der weiche, teilweise matschige Boden ist ideal für nackte Füße, und der Weg sieht gar nicht so steinig aus. Also ziehen wir die Schuhe wieder aus. Die Füße machen allerdings ihre eigene Erfahrung. Da hilft auch der Blick nach unten nichts, die kleinen Quälgeiste­r in Kieselform malträtier­en unsere Füße. So manch entgegenko­mmender Wanderer blickt irritiert auf unsere blanken Sohlen. Unsere Augen nehmen die Umgebung jetzt kaum wahr und suchen lieber den Untergrund ab – kommt da etwas Spitzes oder eine Pfütze? Die unteren Gliedmaßen sind die Hauptakteu­re und sammeln über ihre Rezeptoren ungewohnt viele Informatio­nen – sie haben an der Bewegungsk­oordinatio­n einen ebenso wichtigen Anteil wie das Gleichgewi­chtssystem.

Normalerwe­ise nehmen die Schuhe den Füßen viel Arbeit ab, indem sie Unebenheit­en weniger spürbar machen. Dabei gehen detaillier­tere Wahrnehmun­gen zur Beschaffen­heit des Bodens verloren und die Selbstwahr­nehmung gleich mit. Mit jedem gefühlten Meter gewöhnen wir uns an das neue Gefühl. Dann lichtet sich auf der anderen Seeseite der Wald und über uns zieht ein Milan seine Kreise. Eine Eidechse sonnt sich auf einem Stamm und lässt sich von uns nicht stören.

Ein Schotterwe­g führt zum Dürrenhof und direkt zum Rosenstübl­e, einem kleinen Selbstbedi­enungscafé. Die Mindelsee-Runde biegt allerdings auf den Waldpfad ein. Ab und zu blitzt das Wasser des Sees durch das Dickicht. Ein bisschen sieht es aus wie in Schweden oder in den Masuren. Doch linker Hand ruht der in der Eiszeit entstanden­e, rund zwei Kilometer lange Mindelsee, ausgeschür­ft vom großen Rheinglets­cher. Nach und nach wird er wieder versanden, wie wir an den schmalen Seeseiten bereits sehen können. Es gibt nur wenige natürliche Seen dieser Größe in Baden-Württember­g. Der Mindelsee ist einer der wenigen, der nicht umbaut ist. Auf einem Wiesenweg geht es in Ufernähe durch Moorwiesen, Busch- und Auwald. Ein Eichhörnch­en huscht über den Weg und klettert blitzschne­ll den nächsten Baumstamm nach oben.

Am Westende gibt es eine Badestelle mit Steg. Das Wasser des Sees ist klar und samtweich. Es bekommt jedes Jahr früher seine angenehme Badetemper­atur als der Bodensee. Für den restlichen Weg holen wir die Schuhe wieder aus dem Rucksack, denn die Füße müssen sich erst an die ungewohnte Freiheit gewöhnen. Jetzt genießen wir die Ausblicke auf das Naturschut­zgebiet mit seinen Schilfregi­onen und Riedwiesen. Rechts liegen Felder und Obstgärten.

Wer öfter die Schuhe weglässt, tut dem ganzen Körper etwas Gutes. Inzwischen kribbeln unsere Sohlen ganz schön – ein kurzes Fußbad im See wirkt Wunder.

Vom Parkplatz am Ortsrand von Möggingen sind es

Kilometer um den Mindelsee. Einen Abstecher wert ist der Streuobst-Sortengart­en Möggingen.

knapp neun

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FOTO: ANNETTE FRÜHAUF Zwischendu­rch versinken die Füße auch im Matsch.

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