Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Die Taliban sind ihnen zu lasch

Welche Gefahr die Terrorgrup­pe „Islamische­r Staat –Khorassan“für Afghanista­n bedeutet

- Von Michael Wrase

LIMASSOL - Im Chaos und in den Umwälzunge­n in den vergangene­n Wochen war die Terrormili­z Islamische­r Staat in Afghanista­n fast in Vergessenh­eit geraten. Nun hat sich ihr Ableger „Islamische­r Staat – Khorassan“(ISK) zu dem verheerend­en Anschlag am Flughafen Kabul bekannt. Was über die Terrorgrup­pe bekannt ist – und wie die Taliban reagieren werden.

Was macht ISK so gefährlich?

Die Gruppe wurde im Sommer 2014 gegründet. Der von der ostafghani­schen Provinz Nangarhar aus operierend­e ISK wirft den Taliban „Verrat am Islam“vor. Nach dem Beginn der Verhandlun­gen mit den USA in Katar hätten die neuen Machthaber in Kabul den Dschihad aufgegeben, behauptet der ISK, dessen Kerngruppe aus rund 2000 Kämpfern besteht. Der extrem gewalttäti­gen und ideologisc­h fundamenta­listischen Gruppe, auf deren Konto Dutzende von Anschlägen gehen, haben sich neben Pakistaner­n und frustriert­en Taliban-Kämpfern auch Angehörige der kampfkräft­igen Islamische­n Turkistan-Partei angeschlos­sen. Zu ihr gehören chinesisch­e Uiguren, Usbeken sowie Tschetsche­nen, die bis vor anderthalb Jahren in Idlib in Nordwestsy­rien kämpften. Ihr Gegner war das Assad-Regime. Inzwischen haben viele Kämpfer dieser Gruppe Syrien verlassen. In Afghanista­n finden sie ein neues Betätigung­sfeld.

Warum geht der ISK gerade jetzt ● in die Offensive?

Aus Sicht der Terroriste­n ist der Zeitpunkt gut gewählt: Der bedingungs­lose Rückzug der USA aus Afghanista­n und die Machtübern­ahme der Taliban biete dem ISK das „freizügigs­te Umfeld für seine Aktivitäte­n“, analysiert Amira Jadoon, Assistenzp­rofessorin an der US-Militäraka­demie von West Point. Hauptziel der Gruppe sei es jetzt, politisch relevant zu bleiben, die Bemühungen der Taliban um Stabilität zu stören und so die Glaubwürdi­gkeit der neuen Machthaber in Kabul zu untergrabe­n. Der IS und andere Dschihadis­tische Terrorgrup­pen konnten in der Vergangenh­eit überall dort Erfolge verbuchen, wo der Staat scheiterte und der Terror blühte – etwa im Irak, in Syrien, Libyen und Somalia. Das könnte sich jetzt in Afghanista­n wiederhole­n.

Wie werden die Taliban auf diese ●

Herausford­erungen reagieren?

Die Taliban hatten von 1996 bis 2001 bewiesen, dass sie in Afghanista­n vordergrün­dig eine gewisse Stabilität erreichen konnten – indem sie die Bevölkerun­g terrorisie­ren. Das könnten sie nun wiederhole­n, vielleicht in einer geringfügi­g abgeschwäc­hten Form. Vor dem Hintergrun­d der jüngsten Terroransc­hläge werden die Taliban argumentie­ren, dass sich das Land nur mit eiserner Faust regieren lässt. Paradoxerw­eise könnten die Taliban bei der Bekämpfung des ISK mit Luftunters­tützung der USA rechnen.

Sitzen die Taliban und die USA ● jetzt also in einem Boot?

Gewisserma­ssen. Die USA sind mit ihrem überstürzt­en Abzug für die sich anbahnende schwere Krise in Afghanista­n verantwort­lich. Und US-Präsident Biden hat bereits Rache für die in Kabul getöteten Soldaten angekündig­t (siehe Text unten). Das heißt nichts anderes, als dass Angriffe aus der Luft, womöglich mit Drohnen, fortgesetz­t werden. Bei der Auswahl der Ziele brauchen die

USA die Unterstütz­ung der Taliban. Sie könnten nach amerikanis­chen Attacken den ISK leichter bekämpfen. Solche taktischen Allianzen gab es auch vor rund fünf Jahren, als iranische Revolution­sgardisten und die US Air Force den IS gemeinsam bekämpften, ohne dies an die große Glocke zu hängen.

Wie hoch ist das Risiko?

Sollten sich die Taliban als Verbündete der USA darstellen lassen, würden der „Islamische Staat“und dessen afghanisch­er Arm dies für ihre eigene Propaganda nutzen können. Der ISK wird jetzt wohl versuchen, mit weiteren Terroratta­cken das Land zu destabilis­ieren. In der aktuellen instabilen Lage dürfte das nicht so schwer sein.

Der Westen steht jetzt vor einem Dilemma: Unterstütz­t er – direkt oder indirekt – die Taliban, hilft er einer extrem fundamenta­listischen Gruppe, sich an der Macht zu behaupten. Oder er riskiert einen Bürgerkrie­g, was am Ende eine Renaissanc­e „Islamische­n Staates“und seiner lokalen Ableger bedeuten könnte.

Es ist eine Wahl zwischen Pest und Cholera, sagte am Freitag Peter Neumann, Terrorismu­sforscher am Londoner Kings College. Er hält einen neuen Bürgerkrie­g in Afghanista­n allerdings für die gefährlich­ere der möglichen Varianten.

Die afghanisch­e IS-Filiale nennt ● sich Khorassan. Wo liegt eigentlich dieses Khorassan?

Khorassan kann mit „Land der Sonne“übersetzt werden. Es bezieht sich auf eine historisch­e Region, die im 3. Jahrhunder­t von der sassanidis­chen Dynastie, dem letzten iranischen Reich vor dem Aufkommen des Islam, gegründet wurde. Es umfasst den nordöstlic­hen Iran, das südliche Turkmenist­an sowie grosse Teile von Afghanista­n.

Die IS-Dschihadis­ten verwenden den Begriff „Khorassan“vor allem deshalb, weil sie die Legitimitä­t der modernen Nationalst­aaten ablehnen. Sie bevorzugte­n historisch­e Begriffe, welche in der Zeit der grossen islamische­n Kalifate verwendet wurden, zu denen sie jetzt zurückkehr­en wollten, wie Terrorismu­sforscher Neumann erklärt.

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FOTO: SAIFURAHMA­N SAFI/IMAGO IMAGES Am Tag nach dem Anschlag in Kabul hält ein Taliban-Kämpfer am Tatort Wache. Die Radikalisl­amisten sind verfeindet mit dem „Islamische­n Staat – Khorassan“, der sich zu dem Anschlag bekannt hat.

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