Über NS-Zeit und Geister der Vergangenheit
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Schelklingen - Der Sommer neigt sich zwar dem Ende zu, doch die Urlaubszeit ist noch nicht ganz vorbei. Und weil die freien Tage gut genutzt werden wollen, um zu entspannen und dem Alltagsstress zu entfliehen, geben die Stadtbüchereien der Region ganz persönliche Lesetipps und Buchempfehlungen. Heute aus der Stadtbücherei Schelklingen, gerne empfohlen von Leiterin Christine Hauke und Bea Kienle.
Die Akte Verschickungskinder: ●
Wie Kurheime für Generationen zum Albtraum wurden von Hilke Lorenz (Bericht, 304 Seiten, ISBN 978-3-407-86655-4)
Handlung und Persönliche Empfehlung, da :„Die Akte Verschickungskinder“ist ein Buch, dem ich viele Leserinnen wünsche. Es beschreibt in erschütternder Weise, welche Erfahrungen viele Kinder bei ihrem „Erholungsurlauben / Kinderkuren“machten. Diese Kuren fanden nach dem Zweiten Weltkrieg bis einschließlich der 80er-Jahre statt und waren für die beteiligten Ärzte, Krankenkassen, Heimbetreiber, und viele weitere ein profitables Geschäft. Deutlich wird von der Autorin Lorenz aufgezeigt, in welcher zum Teil menschenverachtender Weise mit den Kindern umgegangen wurde. Vier-, fünfjährige Kinder waren wochenlang von ihren Eltern getrennt, die sich für ihre Kinder das Beste wünschten (Erholung von Krankheiten, genügend Gesundes zu essen, …), voller Heimweh und einsam, oft auch von ihren mitgefahrenen Geschwistern separat untergebracht. Die Kinder fanden ein strenges Regime vor, teilweise Personal, das noch von der NS-Zeit geprägte war. Es kamen vielfach gebrochenen Kinderseelen zurück, die niemandem mehr vertrauen konnten, mit gravierenden Folgen für ihr späteres
Leben. Eine Aufarbeitung ist notwendig und unabdingbar. Dieses Buch und andere Initiativen sind ein erster Schritt in die richtige Richtung.
Nacht über Tanger von Christine ●
Mangan (Fiktion, 368 Seiten, ISBN 9783453423640)
Handlung und Persönliche Empfehlung, da: Das frisch vermählte Ehepaar Alice und John zieht in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts in die nordafrikanische Stadt Tanger. Während sich John in das farbenfrohe, pulsierende Leben der Stadt stützt, sucht Alice immer häufiger Zuflucht vor dieser exotischen Welt mit der großen Hitze, den fremdartigen Gerüchen und den verwinkelten Gassen in ihrer einsamen, dunklen, kühlen Wohnung. Der Leser spürt, dass sie die Geister der Vergangenheit nicht ruhen lassen.Ihre ehemalige College-Freundin Lucy, die eines Tages unerwartet vor ihrer Tür steht, hilft ihr dabei, sich aus der Depression zu befreien. Die beiden verband am College eine innige Freundschaft. Ein tragisches Ereignis trennte sie damals und Alice heiratete aus Verzweiflung John. Alice fühlt sich aber bald wieder – wie damals auf dem College – von Lucys überbordender Fürsorge erstickt. In wechselnden Erzähl-Perspektiven der beiden Frauen erfährt der Leser, was damals auf dem College vorgefallen ist. Und tatsächlich kommt es auch in Tanger wieder zu einem Geschehnis, das Alice an Lucy und vor allem an sich selbst zweifeln lässt.Das vielversprechende Debüt der amerikanischen Schriftstellerin hat mich durch seine spannende, unerwartete Wendungen nehmende Handlung, seine durchweg glaubhaften Charaktere und die bildgewaltige Darstellung der Stadt Tanger absolut überzeugt. Die Filmrechte hat sich die Produktionsfirma von George Clooney gesichert, und die Hauptrolle soll Scarlett Johansson spielen.