Neuer Berblinger rockt die Wilhelmsburg
Schneider von Ulm hat jetzt sein eigenes Musical: Schrill geht es zu, die Musik überrascht
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ULM - Wenn Berblinger das geahnt hätte: 2021, Milliardäre fliegen ins All, Sonden zum Mars und Energy-DrinkMarken verleihen Flügel. Stattdessen ist der findige Ulmer Schneidermeister damals, 1811, leider publikumswirksam in die Donau gefallen, vor den Augen der Stadt. Die Ulmer haben ihn trotzdem lieb gewonnen, feiern schon seit zwei Jahren seinen 250. Geburtstag – verlängert durch Corona. Und jetzt auch noch ein Berblinger-Musical.
Regie führt Thomas Dietrich, die Musik hat das Trio Hermann Skibbe, Helmut Pusch, Christof Biermann komponiert. Das ist der Kern einer unbeugsamen Gruppe, die sich vom Musical-Traum nie abbringen ließ, hartnäckig wie Berblinger selbst.
Verschoben, vertagt und abgeändert – die Pläne für dieses Musicals reichen bis ins Jahr 2010 zurück. „Wir haben Anlauf um Anlauf genommen, und sind immer wieder in der Donau gelandet“, scherzt Biermann. Doch jetzt endlich erlebt das Stück seine Premiere auf der Ulmer Wilhelmsburg, unter freiem Himmel. „Ich bin ein Berblinger“erzählt eine irre Geschichte – Schneider von Ulm, Zweipunktnull.
Ulm, 2020: Ein junger Mann namens Berblinger versucht den Ruf seiner Familie aufpolieren. Mit aller Kraft möchte er das schräge Bild seines Urururopas geraderücken, der einmal der Spott halb Europas war. Schade nur, dass der rührselige Nachfahre bei diesem Rettungsversuch nun selbst in die Donau gefallen ist. Betrunken. Und splitterfasernackt. So endet der Pechvogel – Sympathieträger der Story von Beginn an – in der Psychiatrie.
„Der Höhenflug, der tiefe Sturz“: In klassischem Metal-Rock tönt der erste Song, gesungen vom Berblinger-Darsteller Sascha Lien. Diese Nummer klingt fast ein bisschen nach Udo Lindenberg und spart auch nicht mit erwartbaren Bildern: „Wie ein Vogel so frei.“
Aber nur nicht täuschen lassen: Hier startet eine Songparade, die nur ganz selten in den Kitsch abgleitet. Was Skibbe, Pusch und Biermann geschaffen haben, klingt vielfältiger als die handelsüblichen Wander-Musicals vom Fließband. Echter Rock, Jazz und Swing, Filmmusik mit Streichersound. Nur eben nicht auf der Bühne, sondern vom Band.
Rein in die Psychiatrie, ins Büro des Professors Rollinger: König Ludwig hängt bei diesem Psychiater als Porträt an der Wand – auch so ein Träumer, ein
Abgedrifteter, Verlachter? Der Rollinger jedenfalls ist eine Nummer für sich. Sein Song „Wegsperren“wird zur rockigen Bösewicht-Nummer. Dazu klacken Pillendöschen als Shaker in Großaufnahme über die Video-Leinwand, sie rasseln im Rhythmus.
Brix Schaumburg (Sänger und Schauspieler, Serie „Sunny – Wer bist du wirklich?“) spielt diesen Psychiater, der den jungen Berblinger stillstellen und wegsedieren möchte – „seinen Hang zum Fliegen kann man noch in den Griff kriegen“. Aber vielleicht wäre er, der Rollinger, doch lieber eine Psychiaterin? Mit Perücke und Kleid stolziert Schaumburg im Video rund um den neuen Ulmer Berblinger-Turm – in einer Traumsequenz. Männlein, Weiblein, Conchita Wurst, sein Traum-ich singt ganz selbstbewusst: „Ich bin ich.“Ein Höhepunkt.
Die Musical-Macher wenden einen beliebten Trick an, sie kehren die Diagnose um und fragen: Wer ist hier wirklich bekloppt und wenn ja, wie viele? Ziemlich leger geht das Musical mit dem „Wahnsinn“um: Die Psychatrie-Insassen erschrecken die vermeintlich normalen Besucher wie Michael Jacksons Zombies in Thriller, tänzelnd, brabbelnd, gruselig, im Scherz.
Schnell wird hier klar: Zwei Optionen bleiben, wenn man im Leben die große Niete zieht, seine großen Pläne vermasselt: Entweder dreht man ab und verzweifelt wie Berblinger. Oder man wird Hochstapler. „Wer hat was von Verlierern? Wer mag denn die als Freund?“, trällert der selbst ernannte
König und Dirigent der Klapse. Diese graue Eminenz spielt Sebastian Christ. Er entpuppt sich als Raffzahn, der das Berblinger-Schicksal auch noch monetär aussaugen will. Mit einem medialen Großevent an der Donau, FlugChallenge, man ahnt es schon. Dabei versteckt er sich ja selbst nur vor seinem Versagen, vor den Steuerbehörden und singt: „Lüge wo und wie es geht.“
Da strahlt der geplagte Berblinger umso heller als Held. Bei allem Zaudern macht er eine unmissverständliche Ansage: „Ich bin ein Berblinger. Und ich bin stolz darauf.“In einer Powerballade darf Lien (Hauptdarsteller des Queen-Musicals, auf Bühnen von Köln bis Stuttgart) in die Vollen gehen: „Es brennt immer noch in mir“, singt er – theatralische Pose, hoher Ton, lang gehalten. Und so ein Held braucht doch auch eine angemessene Liebesgeschichte. Da kommt „die bezaubernde Frau Isabell“ins Spiel, dargestellt von Sofie Denner. Sie ist die Entdeckung des Abends – Denner begann ihren Weg einst im Chor der „Ulmer Spatzen“und glänzt jetzt mit lieblicher, klarer, ausdauernder Stimme und überzeugendem Schauspiel. Es funkt, im Flirt mit Berblinger Junior.
Corona-Gags und Galgenhumor: „Uns geht es gut“, singt der schräge Chor der Patienten. Die Nerven liegen blank und dieser kleine Kosmos Psychiatrie, der spiegelt schon sehr exakt die neurotischen Züge unserer Tage. Pandemischer Wahnsinn, fein beobachtet. Es wird aber auch sonst gekalauert: Der Ur-Berblinger ist der
„Schneider-Opa“mit Donau-Tauchschein. Außerdem erhält das neue Ulmer Wahrzeichen einen Spottnamen: Klettergerüst. „Wie viel Geld da die Donau hinuntergegangen ist ...“.
Aber was die Show betrifft, bleibt doch Luft nach oben, da ginge schon mehr – ohne den Bremsklotz Pandemie. Diese Songs hätten ruhig noch mehr Wumms auf der Bühne verdient, mit Choreografie, Tanz und Kulisse und zumindest einer Prise MusicalSchnickschnack-Zauber. Vor allem eine echte Live-Band fehlt – aber das alles ist Corona geschuldet.
Den Berblinger Zweipunktnull lassen die Macher trotzdem steigen und die Premiere war eine Punktlandung, sie kam beim Publikum an. Wegen der Kälte fiel der Applaus nicht überbordend lang aus, aber herzlich. Nach der Berblinger-Freiluft-Show schnell ab ins Warme.
Warnung: Dieses Stück ist nichts für Menschen, die „Cats“für die drollige Flauschigkeit lieben, auch nicht für Zartbesaitete, die Witze bierernst statt trocken nehmen. Und wer wissen will, welche Rolle auch noch Adolf Hitler und Napoleon Bonaparte in diesem schrägen Werk spielen, dem sei ein Musicalbesuch auf der Wilhelmsburg empfohlen. Es ist ein Musical mit Kult-Potenzial für die Stadt Ulm.
Weitere Aufführungen finden am 28. und 29. August sowie am 1., 2., 3. und 5. September statt, um 20 Uhr.