Keine Abschiedsmedaille im Land des Judos – Doppelte Chance im Tischtennis
- Der Wecker läutet früher. Jeden Tag wird Niko Kappel ein paar Minuten eher aus seinen Träumen gerissen. Mit diesem kleinen Trick hat der Kugelstoßer versucht, sich schon in seiner Heimat Welzheim bei Schwäbisch Gmünd langsam auf die siebenstündige Zeitverschiebung in Tokio einzustellen. Schließlich hat der kleinwüchsige Sportler Großes vor: Bei den Paralympics in Japans Hauptstadt möchte er seinen Titel aus Rio 2016 verteidigen. „Wenn ich fit bleibe, habe ich ein sehr gutes Gefühl“, sagt der 26-Jährige.
Immer wieder träumt er von seinem Triumph in Brasilien, auch im Training versucht er, sich in das Gefühl von damals zurückzuversetzen. „Das ist Teil meiner Vorbereitung“, verrät Kappel, der sich von der positiven Energie den entscheidenden Push für eine weitere Goldmedaille in Tokio erhofft. Die aber dürfte alles andere als einfach werden. Die Konkurrenz ist deutlich stärker als noch vor fünf Jahren, seine damalige Siegweite von 13,57 Meter würde nicht einmal für eine Medaille reichen. Da ist sich Kappel sicher: „Es gibt inzwischen vier weitere Sportler, die regelmäßig über meine Weite von Rio stoßen.“Allen voran der Usbeke Bobirjon Omonov, der im Februar Kappels alten Weltrekord von 14,30 Metern um einen Zentimeter überbot. Überhaupt: In den vergangenen Jahren gab es vier verschiedene Weltrekordhalter. Das Para-Kugelstoßen entwickelt sich rasant.
Und Kappel kann da aktuell nicht ganz mithalten. Probleme in der Vorbereitung haben den Athleten des VfB Stuttgart ausgebremst. War er im Sommer 2020 noch topfit, brachte ihn die Verlegung der Spiele um ein Jahr in Bedrängnis. „Ich bin ja auch nicht mehr 21. Da hab ich die Kugel nur angeschaut, und es lief.“Zuletzt lief es eher nicht für Kappel. Eine Rückenverletzung zwang ihn zu einer Pause. Sechs Wochen konnte er nicht in den Ring und das in der Vorbereitung auf „das Riesending, den Höhepunkt“, die Paralympics. Und dennoch gibt sich das 1,40 Meter kleine Kraftpaket kämpferisch: „Ich muss alles rauskitzeln, dann kann es klappen.“
Welche Rolle der Wille spielt, hat Niko Kappel bei seinem Kumpel Frank Stäbler gesehen. Der Ringer hat sich vor drei Wochen ebenfalls in Tokio trotz widrigster Umstände seinen Kindheitstraum erfüllt und in seinem letzten internationalen Karrierekampf mit Bronze doch noch eine Olympiamedaille gewonnen. „Ich durfte bei seinem Empfang dabei sein. Und wenn man weiß, was dahintersteckt,
Tischtennisspieler Valentin Baus und Thomas Schmidberger nach ihrem Halbfinaleinzug bei den Paralympics sicher. Der Traum von zwei Medaillen im „Land des Judos“blieb für die
zum Abschluss großer Paralympicskarrieren dagegen unerfüllt. Ein Weitermachen bis Paris 2024 schloss Ramona Brussig nach ihrer bitteren Niederlage im Kampf um Bronze gegen Natalija Nikolajschik aus der Ukraine aber aus. „Vielleicht mache ich noch mal ein kleineres Turnier. Eine EM oder
dann ist das einfach etwas ganz Besonderes.“
Nun möchte es Kappel seinem Freund gleichtun. Für sein großes Ziel hat er er viel investiert. Wie Stäbler richtete er sich während der Pandemie einen eigenen Trainingsraum zu Hause ein. Stundenlang stemmte er im Keller Gewichte. In Tokio verzichtete er auf die Eröffnungsfeier, um die Vorbereitung auf den Wettkampf so“, sagte sie. „Aber mit Sicherheit gibt es keine Spiele mehr für mich.“Ob dies auch für ihre Schwester Carmen gelte, die in der Klasse bis 48 Kilogramm zunächst im Achtelfinale ausschied und dann in der Hoffnungsrunde, ist offen. „Darüber haben wir uns noch keine Gedanken gemacht“, sagte Ramona. Eine Medaille sicher haben derweil die Tischtennisspieler Baus und Schmidberger. Der Düsseldorfer Baus, der an der Glasknochenkrankheit leidet, bezwang den Franzosen Nicolas Savant-Aira in 18 Minuten mit 3:0 und trifft am
sechs Tage später nicht zu stören. Wie die meisten Leichtathleten bezog er rund zwei Wochen vor Beginn der Wettkämpfe ein „Akklimatisierungstrainingslager“rund 1000 Kilometer von Tokio entfernt.
In der Nacht auf Montag wird es nun ernst, wenn Kappel ab 2.57 Uhr deutscher Zeit – zur „Primetime“, wie er scherzt – in den Ring steigt. Er hofft, dass sich viele Menschen in der
Samstag im Halbfinale auf den Briten Jack Hunter Spivey. Schmidberger benötigte eine Minute länger, um den Chinesen Ping Zhao ebenfalls ohne Satzverlust zu besiegen und bekommt es ebenfalls am Samstag mit dem Chinesen Xiang Zhai zu tun. „Nun ist alles möglich“, sagte der 29-Jährige. Ein Spiel um Platz drei wird es nicht geben, die Halbfinalverlierer erhalten Bronze. In Rio vor fünf Jahren gewannen beide Spieler von Borussia Düsseldorf noch Silber, nun ist mindestens einmal Gold das große Ziel. (dpa)
Edelmetall haben die
Zwillinge Carmen und Ramona Brussig
Heimat den Wecker früher stellen – so wie er es selbst lange gemacht hat. Bei einer Gruppe ist er sicher. „Meine Familie und Freunde – ich weiß, dass sie da sind“, verrät er. Also nicht in Tokio, wo keine Zuschauer erlaubt sind, aber vor dem heimischen Fernseher. „Die werden brüllen. Und das habe ich mir abgespeichert.“Genau wie seinen Gold-Moment 2016. Vielleicht kommt 2021 ja noch einer dazu.