Druck aus dem Netz
Neue Formen des Lobbyismus im Wahlkampf – Auch Staatssekretär Bareiß im Fokus
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STUTTGART - „Klimabremser Thomas Bareiß abwählen“, schreiben die Polit-Aktivisten des Vereins Campact auf ihrer Internetseite. Sätze wie dieser, im Wahlkreis Sigmaringen hundertfach per E-Mail verschickt, sollen die dortigen Wähler dazu bringen, ihre Erststimme bei der Bundestagswahl nicht dem CDU-Kandidaten Bareiß, sondern dem Grünen Johannes Kretschmann, Sohn des amtierenden Südwest-Ministerpräsidenten, zu geben. Der Ton ist aggressiv. Campact bezeichnet Bareiß etwa als „einen der eifrigsten Klimaschutz- und EnergiewendeBlockierer“und wirft ihm unsaubere Verwicklungen in die Wirtschaft und nach Aserbaidschan vor.
Diese Art der Kampagne ist neu. Bislang war es in Deutschland eher unüblich, dass Lobbyisten so massiv gegen einzelne Kandidaten Stimmung machen. Überraschend ist die Entwicklung aber nicht, sagt Politikwissenschaftler Patrick Bernhagen von der Universität Stuttgart.
„Bei Interessengruppen gehört in Wahlkampfzeiten dazu, dass sie sich die Parteien und deren Programme anschauen und dann Wahlempfehlungen aussprechen“, sagt Bernhagen. Jahrzehntelang sei das in Deutschland jedoch eher zurückhaltend und indirekt abgelaufen. „Im Fokus der Empfehlungen von Lobbygruppen stand die Partei, nicht einzelne Personen. Hier verändert sich also gerade etwas.“
Dass die Personenorientierung im Wahlkampf seit einigen Jahren auch in Deutschland zunimmt, gehe jedoch auch von den Parteien selbst aus, die ihre Kandidatinnen und Kandidaten selbst immer mehr in den Vordergrund stellen, sagt Bernhagen. „Wahlplakate, auf denen fast nur Gesichter zu sehen sind, waren in Deutschland in den Siebziger- und Achtzigerjahren weitgehend auf die Spitzenkandidatinnen und Spitzenkandidaten beschränkt. Dass nun auch Verbände und Interessengruppen bei dieser Entwicklung mitmachen und ihre Einflussversuche stärker personalisieren, überrascht mich also nicht.“Bernhagen verweist auf die USA, wo der Wahlkampf seit jeher viel personalisierter abläuft – auch was die Mitwirkung von Lobbyverbänden angeht.
Campact selbst begründet sein gezieltes Vorgehen gegen einzelne Kandidaten mit der Besonderheit des deutschen Wahlrechts. „Wir machen mit unserer Kampagne auf eine Besonderheit des Wahlrechts aufmerksam, die vielen nicht bewusst ist“, sagt eine Sprecherin auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“. „Die Erststimme bestimmt, wer für seinen oder ihren Wahlkreis in den Bundestag einzieht – was entscheidend für mehr oder weniger Klimaschutz sein kann.“Um zu prüfen, ob Bareiß angesichts seiner in der Vergangenheit sehr hohen Zustimmungswerte das Direktmandat streitig gemacht werden kann, hat Campact eigens eine Forsa-Umfrage in Auftrag gegeben. Sie kam zu dem Ergebnis, dass Johannes Kretschmann gute Chancen hat, Thomas Bareiß, der nicht über die Landesliste abgesichert ist, abzulösen. „Er kommt demnach auf genauso viele Erststimmen und genießt höheres Vertrauen bei den Menschen im Wahlkreis“, heißt es von Campact. Neben dem Wahlkreis Sigmaringen
finden ähnliche Kampagnen in sechs weiteren Wahlkreisen statt. Verhindern möchte der Verein etwa auch, dass Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen ein Direktmandat in Thüringen erringt.
Forscher Bernhagen sieht unter den Lobbygruppen im Umwelt- und Klimaschutzbereich eine Art Arbeitsteilung zwischen radikaleren Protestlern wie Campact, Fridays for Future oder Extinction Rebellion auf der einen und Verbänden wie dem Nabu oder inzwischen auch Greenpeace und dem BUND, die sich durch viel Fleißarbeit ins politische Establishment hineingearbeitet haben, auf der anderen Seite. „Vor allem beim Umwelt- und Klimalobbyismus kann man von einem recht großen politischen Markt sprechen“, sagt er. „Es gibt dort Platz für die Radikalen und die Gemäßigten, weil sie unterschiedliche Bedarfe bedienen und unterschiedliche Menschen ansprechen.“
Ähnlich sieht das auch Johannes Enssle, Landesvorsitzender des Nabu Baden-Württemberg. „Über den Geschmack der Campact-Kampagne kann man sich sicherlich streiten. Zum Nabu würde ein solches Vorgehen nicht passen. Aber ich bin froh, dass es auch über Fridays for Future inzwischen eine stärkere Politisierung dieser Themen gibt“, sagt er. Und: „Tatsächlich würde es dem Klima guttun, Bremser wie Thomas Bareiß würden aus dem Bundestag fliegen.“
Bareiß selbst hält von der Campact-Aktion naturgemäß eher weniger. „Diese Form von persönlichen Angriffen, Unterstellungen und Stimmungsmache habe ich bisher noch nicht erlebt“, sagte er der „Schwäbischen Zeitung“. Campact erkläre ganz gezielt Abgeordnete von CDU und CSU für vogelfrei. Mit solchen Aktionen werde die „Axt an unsere demokratische Gesellschaftsform“gelegt.
Diese Kritik will Campact wiederum nicht auf sich sitzen lassen. Man mache lediglich vom Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch, heißt es von den Aktivisten. „Wahlempfehlungen von zivilgesellschaftlichen Organisationen sind in Deutschland zwar eher ungewöhnlich, in anderen westlichen Demokratien aber völlig normal“, sagt eine Sprecherin. „Wahlempfehlungen für oder gegen einen Kandidaten oder eine Partei sind eine legitime öffentliche Meinungsäußerung. Nicht mehr und nicht weniger.“Außerdem richte sich die Kritik nur gegen Bareiß’ Politik der vergangenen 16 Jahre – nicht gegen den Menschen Thomas Bareiß.
Politikwissenschaftler Bernhagen hat Verständnis dafür, dass Bareiß von der Kampagne überrascht wurde. „Ich kann nachvollziehen, dass ein solches Vorgehen auch einen Berufspolitiker oder eine Berufspolitikerin erst mal erschreckt“, sagt er. „Aber Berufspolitiker sind Vollprofis, und Herr Bareiß ist mit allen Wassern gewaschen. Ich glaube nicht, dass ihn die Kritik wirklich trifft.“Ohnehin hingen Ergebnisse politischer Prozesse von vielen Faktoren ab. „Ob die Kampagnenarbeit von Campact jetzt der Faktor ist, der einen Kandidaten über die Schwelle bringt, oder ob der vielleicht ohnehin gewonnen hätte, lässt sich nicht sagen, noch nicht einmal rückblickend.“