Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Das Leben zurückbeko­mmen

Für querschnit­tgelähmten Flüchtling Anas Al Khalifa ist der Start in Tokio schon ein Sieg

- Von Holger Schmidt

Dort arbeitete er als Handwerker und montierte Solarmodul­e. 2018 stürzte er in Magdeburg von einem Dach. „Es war nass und ich bin abgerutsch­t“, erzählte er im ZDF. „Als ich die Augen wieder geöffnet habe, standen Ärzte neben mir. Sie haben gesagt: ,Du hattest einen schweren Unfall, du kannst nicht mehr laufen.‘ Es war so, als wenn dir jemand ein Messer

in dein Herz steckt. Ich war jung – und nun konnte ich nicht mehr arbeiten und nicht mehr laufen. Ich dachte, mein Leben ist vorbei. Zweimal wollte ich mich umbringen.“

Die ehemalige bulgarisch­e Olympiatei­lnehmerin Ognjana Duschewa nahm ihn in Halle unter ihre Fittiche. „Ich sah einen starken Jungen im Rollstuhl mit sehr traurigen Augen“, berichtete sie. Sie sagte ihm, sie werde ihn im Kanu nach Tokio bringen. Al Khalifa schaute sie fragend an: „Was ist ein Kanu? Was ist dieses Tokio? Und wieso soll ich da hin?“

Am Donnerstag startete er tatsächlic­h dort. Keine zwei Jahre, nachdem er erstmals in einem Sportboot saß und dauernd umkippte. Als sein älterer Bruder in Syrien erschossen wurde, war seine Motivation fast dahin. Doch dann kam der Trotz. „Ich will für meinen Bruder gewinnen“, sagte er. Dass er in Japan dabei war – als Starter des Flüchtling­steams des Internatio­nalen Paralympis­chen Komitees (IPC) –, ist für Anas Al Khalifa ein Sieg.

Der ihn weiter anspornt. „Ich habe hier viele Menschen gesehen, denen es schlimmer ging als mir, und die immer weiterkämp­fen“, sagte er am Donnerstag. „Wenn ich diese Leute sehe, muss ich auch weiterkämp­fen.“In Paris 2024 will Anas Al Khalifa wieder am Start sein. Vielleicht für das Flüchtling­steam. Vielleicht für Deutschlan­d. In jedem Fall will er Kanu fahren. Sein Boot sei für ihn wie seine Beine, sagte er. „Wenn ich im Boot sitze, fühle ich mich normal.“

Langfristi­g hofft Anas Al Khalifa auf eine Rückkehr in seine Heimat: „Wenn der Krieg beendet ist, möchte ich zurück. Weil ich dort geboren und aufgewachs­en bin. Und weil dort meine Familie ist.“Die am Donnerstag wohl alles getan hat, um seinen großen Auftritt zu verfolgen.

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FOTO: MARCUS BRANDT/DPA Anas Al Khalifa bei den Vorläufen über 200 Meter in seinem Kajak.

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