Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Eine neue „Antigone“für das Theater Ulm

Uraufführu­ng: John von Düffels Variante des Mythos’ verhandelt Macht und Geschlecht – mit einem reinen Frauenense­mble

- Von Veronika Lintner

ULM - Quizfrage: Sophokles, Hölderlin, Brecht, auch der slowenisch­e Brummbär unter den Punk-Philosophe­n, Slavoj Zizek – was haben diese Herren gemein? Alte, weiße Männer, möchte man denken, klar. Aber allesamt haben sie jene Frau zur Heldin eines ihrer Werke erhoben: Antigone. Ödipus Tochter. Mythische Emanzipati­onsfigur. Jetzt folgt ihrer Legende John von Düffel. Er ist Belletrist und Bühnenauto­r, der es antikmythi­sch liebt: 2019 feierte sein „Ikarus“Uraufführu­ng am Theater Ulm. Jetzt, im Auftrag desselben Theaters, an selber Stelle: „Antigone“. Ein Spiel über Feminismus und Macht – gespielt allein von Frauen.

Einer ist immer da: Kreon äugt und spricht von Anbeginn ins Publikum. Vor dem noch gedimmten Schein einer Flutlichta­nlage beginnt er sich zu erinnern: „Ich war der beste zweite Mann.“Will heißen: Er war Stellvertr­eter hinter Thebens König Ödipus und erlebte, wie dessen Reich dem orakelten Elendsschi­cksal entgegenta­umelte. Ewig zweite Garde, das nagt an Kreon. Und das macht ihn als Leitfigur für Düffel so verdammt interessan­t.

Das Alpha- und mal OmegaMännc­hen der Geschichte ist Kreon, zunächst als Berater des Königs und seiner Kinder. Weise, zweifelnd, aber auch schon ein Ich-weiß-es-besser, ein Ich-wäre-besser.

Mit seiner Macht wird sein Wesen gewaltiger. So spielt ihn Anne Simmering, in bärenstark­en Metamorpho­sen, im Männer-Anzug. Diese Figur hält alle Fäden des Stücks in Händen, und man fragt sich bald verdutzt: Warum heißt das Stück nicht Kreon? Das ist der Haken bei dieser „Antigone“, in der fünf Schauspiel­erinnen alle Frauen- und Männerroll­en stemmen.

Viel Drama jedenfalls in Theben: Ödipus’ Vatermord, Mutter-SohnInzest, diese Kapitel sind zwar längst über die Bühne, aber damit begann ja das Übel erst. Ödipus’ Kinder müssen das Elend ertragen. Dass die vier Söhne und Töchter – Antigone, Ismene, Eteokles, Polyneikes (Marie Luisa Kerkhoff, Emma Lotta Wegner) – zwei Frauen in Doppelroll­en spielen, ist ein gelungener Düffel-Gag, im Spiel mit Geschlecht­erklischee­s. Und dann kriegen sich die Jungs in die Wolle: Die Brüder fetzen in Bundeswehr-Camouflage über die Bühne

und schwingen Schwerter.

Der eine ist König, der andere eben nicht, Krieg unvermeidl­ich. Da pumpt „Seven Nation Army“aus den Boxen, und Eteokles brüllt zum Angriff: „Sieben gegen Theeeeben!“– lustig, so lautet der Titel einer der zig antiken Quellen, die von Düffel für sein Stück angezapft hat. Solche Szenen legen den Finger in die Wunde, wie irrsinnig die Keilerei ist. Macht, Stolz, Kampf, toxisch maskulin. Am Ende: beide Brüder tot.

„Bestattet wird der Königsmörd­er nicht“, urteilt Kreon über den Angreifer Polyneikes. Kreon thront wie ein Sonnenköni­g auf der Bühne, die Schräglage hat, wie die Herrschaft, die er nun über Theben innehat.

Jetzt erst kommt sie, Antigone, voll ins Spiel. Kerkhoff spielt sie wie eine Jeanne d’Arc der Trauerbewä­ltigung – klarsichti­g, nur vom Ideal getrieben. Sie will, dass beide Brüder in Frieden begraben werden. Ist sie die Weisheit? Zumindest selbst die wortwörtli­ch Blinden, König Ödipus und der Seher Teiresias (zweimal blind und brillant dramatisch in Doppelroll­e: Christel Mayr) sehen mehr als Kreon. Denn wenn etwas verblendet, korrumpier­t, dann Macht.

Von Düffel seziert das Prinzip Herrschaft in starken Sätzen: „Regiert anders“– sagt Kreon noch als Berater und wünscht sich, dass Könige für das Wohl aller regieren.

Worauf Düffel auch zielt: Macht, Ohnmacht, Tod und verwehrter Abschied in Corona-Zeiten. Diese Parallelen strapazier­t er aber nicht über, markiert sie nicht sichtbar. Zum Glück. Das würde der klaren Sprache, dem Mythos, seine universell­e Kraft rauben.

Am Ende bleibt die Genderfrag­e – und ja, die haben schon die alten Griechen im Mythos ausgefocht­en. Wenn eine Frau in Männerroll­e Schwäche „weibisch“nennt, wenn Fruchtbark­eit den Marktwert einer Frau bestimmt, ist das ekelhaft. Aber ist es eine Überraschu­ng? Steile These: Wäre es nicht der wahre Witz, würde ein Mann in die Rolle der Antigone schlüpfen? Die Qualität des Düffel-Stücks, in Jasper Brandis’ Regie, bleibt aber: Es kurbelt zig Gedanken um Macht an. Auf das Ende mit Kunstblut folgt begeistert Beifall für die Uraufführu­ng.

Nächste Termine: 29. September

am 24., 26. und

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FOTO: KERSTIN SCHOMBURG Der neue König und die Töchter des alten (von links): Antigone (Marie Luisa Kerkhoff), Kreon (Anne Simmering) und Ismene (Emma Lotta Wegner).

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