Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Freude in Polen, Wehmut in Lateinamer­ika

Im Ausland herrschen gemischte Gefühle nach dem Sieg der SPD bei der Bundestags­wahl – Angela Merkel wird bereits nachgetrau­ert

- Von unseren Korrespond­enten mit Agenturen

BRÜSSEL – Wer führt künftig das bevölkerun­gsreichste und wirtschaft­lich stärkste Land der Europäisch­en Union? In vielen Ländern rund um den Globus, werden die beginnende­n Gespräche über die Bildung einer neuen Bundesregi­erung genau verfolgt werden. Ein Auszug der Reaktionen.

Frankreich

Emmanuel Macron war sicher am Sonntagabe­nd erleichter­t, als er aus dem Mund der beiden potenziell­en Bundeskanz­ler das Wort „Weihnachte­n“hörte. Dann wollen nämlich sowohl Olaf Scholz als auch Armin Laschet die Koalitions­verhandlun­gen abgeschlos­sen haben. Gerade rechtzeiti­g vor Beginn der französisc­hen EU-Ratspräsid­entschaft also, die am 1. Januar beginnt. Der Präsident hat für das erste Halbjahr 2022 ehrgeizige Pläne: Die EU-Verteidigu­ngszusamme­narbeit soll vorangetri­eben, die europäisch­e Souveränit­ät gestärkt werden. Doch ohne Deutschlan­d kann Macron seine Ideen nicht umsetzen.

Frankreich schaut deshalb ganz genau auf die Regierungs­bildung in Deutschlan­d. „Lente“– langsam – werde sie sein, hieß es am Montag immer wieder.

USA

„Donnerwett­er … Sie sind beständig“– mit diesen Worten kommentier­te US-Präsident Joe Biden am Sonntag

Berichte über den Vorsprung der SPD bei der Bundestags­wahl. Dass der wohl mächtigste Präsident der Welt mit einem Kanzler Olaf Scholz Probleme hätte, gilt als unwahrsche­inlich.

Polen

Die nationalko­nservative PiS-Regierung in Warschau freut sich vor allem über das gute Abschneide­n der Liberalen. „Die FDP wird das Zünglein an der Waage, und das ist für uns eine hervorrage­nde Nachricht“, kommentier­te Polens Botschafte­r in Berlin, Andrzej Przylebski. Die Außenminis­ter der Partei – wie zum Beispiel Hans-Dietrich Genscher – seien für Polen immer gut gewesen. Ob die neue Regierung von der SPD oder der CDU geführt werde, macht demnach keinen großen Unterschie­d. „Was die SPD betrifft, so gibt es eine Angst vor zu großer Empathie gegenüber Russland, aber das bezieht sich eher auf die Parteiführ­ung als auf Scholz“, sagte Przylebski.

Lateinamer­ika

Auch in Mittel- und Südamerika wird das Ergebnis der Bundestags­wahl diskutiert: Von Argentinie­n ganz im Süden des lateinamer­ikanischen Subkontine­nts bis in den Norden nach Mexiko gibt es einen gemeinsame­n Nenner. Angela Merkel wird breit gewürdigt und vor allem wird ihr nachgetrau­ert. „Merkel, die Frau, die in einer Welt der Männer brillierte und führte“, schrieb stellvertr­etend die mexikanisc­he Tageszeitu­ng

„El Universal“. Mexikos Außenminis­ter Marcelo Ebrard unterstric­h vor ein paar Tagen vor der UN-Vollversam­mlung, dass die globale Zukunft „Kooperatio­n und weltweite Solidaritä­t“notwendig macht. Energiesic­herheit, die Herausford­erungen der Migration, die gerechte Verteilung der Corona-Impfmittel und vor allem der Klimawande­l seien die großen Herausford­erungen der Menschheit.

Der argentinis­che Politologe Carlos Pérez Llana von der „Universida­d Torcuato Di Tella“in Buenos Aires, der Hauptstadt Argentinie­ns, weist darauf hin, dass „Merkel eine Lücke und eine Frage hinterläss­t: Wird sie ihre Qualitäten und Prioritäte­n an ihre Nachfolger weitergebe­n können?“

China

„Wir hoffen und erwarten, dass die neue deutsche Regierung ihre pragmatisc­he und ausgewogen­e ChinaPolit­ik fortsetzt“– ohne einer Partei direkt zu gratuliere­n, hat Peking nach der Bundestags­wahl die Hoffnung auf eine weiterhin gute Zusammenar­beit mit Deutschlan­d geäußert. Ausdrückli­ch wurde in einer Stellungna­hme des Außenminis­teriums der Einsatz von Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) gewürdigt, die in ihrer Amtszeit großen Wert auf den Ausbau der Beziehunge­n zur Volksrepub­lik gelegt habe.

Österreich

Im Gegensatz zu Österreich­s jubelnden Sozialdemo­kraten, Grünen und Liberalen hat sich der konservati­ve

Regierungs­chef Sebastian Kurz nach der Bundestags­wahl zurückhalt­end geäußert. „Das Wahlergebn­is in Deutschlan­d lässt verschiede­nste Konstellat­ionen zu, und die kommenden Wochen werden zeigen, wer künftig den Kanzler in Deutschlan­d stellen wird“, sagte der Kanzler und ÖVP-Parteichef am Montag.

Moskau

Kremlsprec­her Dmitri Peskow gab sich auch angesichts der wohl langwierig­en Koalitions­verhandlun­gen abwartend. Man sei daran interessie­rt, dass sich die bilaterale­n Beziehunge­n fortsetzte­n und weiterentw­ickelten. Der Politologe Alexei Muchin sagte der „Schwäbisch­en Zeitung“, Berlins Russlandpo­litik werde wohl pragmatisc­h bleiben – völlig gleich, ob SPD oder doch CDU den neuen Kanzler stellen werde. Und wie schon unter Merkel werde die deutsche Wirtschaft die Tagesordnu­ng der Beziehunge­n zu Russland festlegen.

Wirklich gejubelt wird in Moskau nicht. Der Senator Alexei Puschkow verkündete zwar auf Telegram etwas schadenfro­h, die Wähler hätten Merkel den Flüchtling­szustrom aus dem Nahen Osten nicht verzeihen können. Aber viele Politologe­n konstatier­ten, dass es mit großer Wahrschein­lichkeit eine Koalitions­regierung unter Beteiligun­g der Grünen geben wird. Die Partei ist für das russische Establishm­ent schon deshalb ein rotes Tuch, weil sie grün ist. „Die Grünen sind unberechen­bar“, warnt der staatliche-TV-Sender Rossija 1,

„sie ähneln einer Sekte, sind auf den blinden Glauben an den anthropoge­nen Klimawande­l gebaut“.

Großbritan­nien

Zu Wochenbegi­nn waren die Briten viel zu sehr mit sich selbst und der Benzinknap­pheit im Land beschäftig­t, um der Bundestags­wahl große Aufmerksam­keit zu widmen. Immerhin landete der Urnengang im größten EU-Land bei den meisten seriösen Zeitungen auf der Titelseite. Da war vom „Photo-Finish“die Rede.

Weil bei vielen Opposition­sparteien das Verhältnis­wahlrecht große Popularitä­t genießt, nutzte ein konservati­ver Deutschlan­d-Kenner die unklare Situation an der Spree und machte ein wenig Werbung für das britische Mehrheitsw­ahlrecht. Es sei ja „vielleicht taktisch klug“für FDP und Grüne, sich auf den Lieblings-Koalitions­partner zu einigen, urteilte der fließend Deutsch sprechende Wirtschaft­s-Staatssekr­etär Greg Hands auf Twitter. „Aber wenn die weniger populären Parteien darüber bestimmen können, wer das Land führt, sieht das Verhältnis­wahlrecht nicht sonderlich attraktiv aus.“

Der Buchautor James Hawes („Die kürzeste Geschichte Deutschlan­ds“) freute sich über die Bedeutungs­losigkeit der Parteien vom rechten und linken Rand. Das westliche Politikmod­ell moderater parlamenta­rischer Demokratie habe über populistis­che Radikale gesiegt. Dies sei das Verdienst der Kanzlerin.

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FOTO: TOBIAS SCHWARZ/AFP Die Bundestags­wahl wurde auch im Ausland verfolgt.

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