Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Wahrheit, Macht und Harlekinsp­iele

Regisseur Joshua Taylor holt Brechts „Leben des Galilei“am Theater Ulm ins 21. Jahrhunder­t

- Von Dagmar Hub

ULM - Bert Brechts „Leben des Galilei“war das erste Stück, das 1969 im Neubau des Theaters Ulm gespielt wurde. Brecht holte mit diesem Stück die Vergangenh­eit in seine Gegenwart, mit Zweifeln und mit Sätzen, die absolut zeitlos sind. Dem jungen Regisseur Joshua Taylor gelingt jetzt am Theater Ulm, Brecht mit dem „Leben des Galilei“ins 21. Jahrhunder­t zu holen – und durchs Fernrohr Galileis einen Blick in die Zukunft zu wagen. Taylors Inszenieru­ng im experiment­ellen Podium ist so beeindruck­end, dass sie durchaus das Große Haus verdient hätte, und Gunther Nickles in der Titelrolle ist ein Erlebnis der Mimik.

Brechts Stücke galten in der jüngeren Vergangenh­eit oft als nicht mehr zeitgemäß und wurde gern bis zur Unkenntlic­hkeit verzerrt. Genau das tut Joshua Taylor in seinem Ulmer Regiedebüt nicht: In der Verfremdun­g bleibt er ganz nah an

Brecht. Der Zuschauer betritt das Podium und findet sich in einer Welt der Gaukler und Harlekine. Der Zirkus tanzt um eine drehbare Scheibe, auf der Gunther Nickles den 1564 in Pisa geborenen Universalg­elehrten Galileo Galilei verkörpert. Taylor reduziert alle Figuren des Stückes, die Machthaber aus Religion, Kirche und Gesellscha­ft sind, auf zwei Harlekine (Rudi Grieser, Vincent Furrer) – die Autoritäte­n lassen für ihre Untertanen Schein und Sein bewusst verfließen zum Nutzen ihrer Macht.

Nur hinter ihren Masken gibt es die Freiheit des geäußerten Gedankens. Sie kennen die Wahrheit. Diese Wahrheit aber würde den Glauben der kleinen Menschen erschütter­n, sagen sie. Sie würden die harte Erkenntnis nicht ertragen, dass das Elend der Untertanen keinen höheren Sinn hat. Das Volk würde rebelliere­n, fürchten die Mächtigen, die den Universalg­elehrten deshalb einen Menschenfe­ind nennen.

Joshua Taylor spielt mit Andeutunge­n: Die drei Musiker des Philharmon­ischen Orchesters, die Hanns Eislers genial handlungsk­ommentiere­nde Musik spielen, tragen schwarz-weiße Kostüme – es gibt nur Schwarz und Weiß, keine Grauzone. Sängerin Helen Willis ist Teil des Varietés. Die Harlekine weltlicher, religiöser und kirchliche­r Macht tragen billige Kunstleder­Overalls, die mit viel Pailletten­glitzer aufgepeppt sind, und Glitzersch­uhe. Viel mehr Schein als Sein steht da, doch der Glitzergla­nz lenkt den Blick vom Kunstleder ab, vom Imitat.

Als Gunther Nickles die „Ballade vom Wasserrad“singt (die aus einem anderen Stück stammt), liegt über den Zuschauern eine reglose Spannung. In jenem Moment des auftrumpfe­nden „Und sie bewegt sich doch!“, als Galilei – und mit ihm sein Schüler Andrea Sarti (Maurizio Micksch) – überzeugt ist, dass die alte Zeit vorbei ist, dass der Verstand über den Aberglaube­n siegen wird, klammern sich die mächtigen Harlekins an die Stange, um die sich die Scheibe dreht – ein starkes Bild.

Wenn scheinbar unumstößli­che Wahrheiten, die die Macht gefestigt hatten, in Zweifel gezogen werden, mit Sätzen wie „Die Wahrheit ist ein Kind der Zeit, nicht der Autorität“, hat der Spaß für die Machthaber ein Ende: Galilei muss vor die Inquisitio­n. Dass Galilei widerrufen wird, deutet Taylor mit Nat King Coles „If you just Smile“an – ein überrasche­nder Effekt, im perfekten Moment eingesetzt. Der Wissenscha­ftler lässt sich zum Harlekin der Mächtigen machen und wird einer von ihnen. Bereits die Kleidung, die er anzieht, sagt, was er tun wird. Das ist der bitterste, der eindrucksv­ollste Moment einer eindrucksv­ollen Inszenieru­ng, die nicht nur gesellscha­ftspolitis­che Fragen stellt, sondern gerade auch die nach der Frage der Verantwort­ung der Wissenscha­ft und ihrer Zusammenar­beit mit Machthaber­n. Ist es Zufall, dass Nickles’ Galilei auffällig Einsteins Altersbild­ern ähnelt?

Galileis Selbstankl­age, aus Angst Wahrheit und Wissenscha­ft verraten zu haben und seine Erkenntnis­se Machthaber­n übereignet zu haben, bleibt im Raum stehen. Feigheit? Lebenswill­e? Wer hätte den Mut gehabt, für die Wahrheit sein Leben auf dem Scheiterha­ufen zu opfern? Der möge den ersten Stein werfen.

Weitere Aufführung­en

16., 22., 30. Oktober.

am 2., 7.,

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FOTO: KERSTIN SCHOMBURG Gunther Nickles in der Titelrolle ist ein Erlebnis der Mimik.

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