Das Erbe von Saal 600
Vor 75 Jahren endete der Nürnberger Kriegsverbrecherprozess – Als Lehre sieht sich die Stadt mit der schlimmen NS-Vergangenheit nun vor allem dem Frieden und den Menschenrechten verpflichtet
NÜRNBERG - „In diesem Saal stellen sich mir immer die Haare auf“, sagt Ulrich Maly. Von den Zuschauerplätzen aus gesehen, saßen sie links auf zwei hölzernen Anklagebänken – 21 Männer, einer neben dem anderen, Hauptverantwortliche für die NS-Verbrechen. Zumindest jene Nazitäter, die für die Alliierten greifbar waren. Vor 75 Jahren war das, in Nürnberg im Schwurgerichtssaal 600 des Justizpalastes. Am 20. November 1945 hatte der Hauptprozess begonnen, am 1.Oktober 1946 war er zu Ende gegangen.
Der Sozialdemokrat Ulrich Maly war 18 Jahre lang Oberbürgermeister und hat die Stadt stark geprägt. Im Frühjahr 2020 trat er nicht mehr an, mit 60 Jahren wollte er in den Ruhestand. Doch bleibt ihm die Franken-Metropole am Herzen, und so spricht er selbstverständlich über die Prozesse und die NS-Zeit. Und darüber, was man daraus lernen kann. Maly formuliert es so: „Es besteht die Chance, die Nürnberger Prozesse aus dem Vergangenheitsblick zu befreien.“Immerhin sei dort erstmals international Recht gesprochen worden, Völkermörder wurden zur Rechenschaft gezogen – „davon träumt die Menschheit seit 100 Jahren“.
Fotos der zerbombten Stadt mit ihren vielen Ruinen geben einen Eindruck, wie es damals, nach Kriegsende und der Befreiung von Hitler-Deutschland, um Nürnberg stand. Sehr rasch begannen die Alliierten als Besatzungsmächte den Prozess – die USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion. In den Zellen hinter dem Justizpalast – sie stehen teilweise noch – waren die Angeklagten einzeln untergebracht, sie sollten sich nicht absprechen können. Durch einen Gang wurden sie in den Saal geführt. Darunter waren etwa Hermann Göring – Reichsluftfahrtminister und zweiter Mann im NS-Staat, Rudolf Heß als „Stellvertreter des Führers“, Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop oder Julius Streicher, Besitzer des antisemitischen Hetzblattes „Der Stürmer“.
Der „600er“, wie er in Nürnberg oft genannt wird, ist ein größerer, holzvertäfelter Saal mit von der Decke hängenden Kronleuchtern und einem großen schwarzen Holzkreuz über der Richterbank. Axel Fischer ist ein Mann, der so ziemlich alles über die Prozesse und den Saal weiß – er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter des „Memoriums Nürnberger Prozesse“. Die Amerikaner hätten beim Umbau für das Verfahren „den historischen Pomp rausgehauen“, sagt er. Zuvor war der Saal von einem der berüchtigten NS-Sondergerichte genutzt worden, das politische Gegner und andere unliebsame Personen reihenweise und teils wegen Nichtigkeiten zum Tode verurteilt hatte.
Bis im vergangenen Jahr wiederum war der Saal regulär vom Schwurgericht genutzt worden. Nun ist er Teil des „Memoriums“mit der dazugehörenden Ausstellung. Fischer meint: „Das ist kein Ort der NS-Geschichte, das ist ein Nachkriegsort.“In Nicht-Corona-Zeiten besichtigen ihn 100 000 Besucher jährlich, drei Viertel davon aus dem Ausland. In den Räumen finden Diskussionsveranstaltungen statt, Filme werden gezeigt, es gibt Theaterprojekte. „Das ist in die Zukunft gerichtet“, sagt der Wissenschaftler. Und so steht auf einer Schautafel: „Von Nürnberg nach Den Haag.“Das bezieht sich auf den internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, der Prozesse anstrengt gegen die Verantwortlichen für Kriegsverbrechen und Völkermord in vielen Teilen der Welt.
Nürnberg – die fränkische Großstadt mit 520 000 Einwohnern – hat so viele unterschiedliche Facetten: Mittelalter pur, Albrecht Dürer, Bratwurst und Lebkuchen. Und: NS-Ort. Als „Stadt der Reichsparteitage“war sie von Adolf Hitler auserkoren worden. Auf dem Zeppelinfeld gab es martialisch-riesige Aufmärsche zu Ehren des „Führers“, der auf der Tribüne sprach. Die „Kongresshalle“auf dem Areal war als NS-Monumentalbau geplant, der aber nicht fertiggestellt werden konnte. In einem Teil davon befindet sich heute das „Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände“.
So viel – erdrückende – Geschichte. „Deshalb hat Nürnberg eine besondere Verantwortung“, sagt Martina Mittenhuber. Sie sitzt in ihrem Büro im Rathaus in der Altstadt. Mittenhuber leitet eine städtische Stelle, die es so in keiner anderen Stadt in Deutschland gibt: das Nürnberger Menschenrechtsbüro. Es existiert seit 1997 und ist direkt dem Oberbürgermeister angegliedert. „Die Stadt nimmt das ernst“, meint sie. Ex-OB Ulrich Maly erzählt, dass anfangs unterstellt wurde, Nürnberg wolle sich „sauber waschen“. Doch soll sich das Büro
● gerade aufgrund der NS-Geschichte für Menschenrechte einsetzen. „Die Mechanismen der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit sind immer gleich“, sagt Maly. „Darüber muss erzählt werden.“Nürnberg bezeichnet sich als „Stadt des Friedens und der Menschenrechte“.
Mit ihren zehn Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ist Martina Mittenhuber etwa Ansprechpartnerin für Bürger, die sich als rassistisch behandelt oder beleidigt ansehen. Jährlich melden sich um die 200 Menschen mit solchen Vorwürfen. Das Büro wird dann aktiv, spricht mit dem Angeschuldigten, etwa dem Arbeitgeber, um den Vorfall zu klären. Stimmen die Vorgänge, erwartet das Büro eine Entschuldigung. „Die Leute wollen oft kein Geld“, so ist ihre Erfahrung, „sondern das Eingeständnis der Diskriminierung.“
Weiter ist das Büro für Menschenrechtsbildung zuständig. Die Mitarbeiter geben etwa Seminare für Polizisten, Altenpflegekräfte oder Beschäftigte beim Ausländeramt. Es besteht Kontakt zu verschiedenen Gruppen, die sich beispielsweise für Geflüchtete einsetzen. Und das Büro organisiert die Verleihung des mittlerweile international hoch angesehenen „Nürnberger Menschenrechtspreises“. Mittenhuber sagt: „Wir suchen die versteckten Helden.“Geehrt werden keine Prominenten, sondern Menschen, die sich mit ihrem gesellschaftlichen und politischen Einsatz selbst in Gefahr bringen.
„Die Schicksale der Preisträger sind berührend“, sagt Ulrich Maly. Er erinnert sich etwa an die Usbekin Tamara Chikunova, die den Preis 2005 für ihren Einsatz gegen die Todesstrafe in ihrem Heimatland erhielt. 2008 wurde die Todesstrafe in Usbekistan abgeschafft. Oder an den kolumbianischen Journalisten und Menschenrechtler Hollman Morris, der sich seit vielen Jahren gegen den Bürgerkrieg und für Frieden zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla engagiert. Maly: „Diese Beispiele zeigen, dass der Kampf nicht umsonst ist.“
Auch gibt es in Nürnberg etliche Menschen, die sich ehrenamtlich für Menschenrechte einsetzen. Etwa Felix Krauß, 28 Jahre alt. Beruflich arbeitet er als wissenschaftlicher Referent der SPD-Landtagsabgeordneten Alexandra Hiersemann. Beim Verein Nürnberger Menschenrechtszentrum ist er vor allem für die Finanzen und Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Es geht der Gruppe um menschenwürdigere Migration, aber auch um Themen wie Wohnungslosigkeit und die wirtschaftliche Verantwortung von Unternehmen. Krauß kennt sich mit sozialen Medien aus, ein von ihm geschaffener neuer Blog soll eine kritische Stimme zu dem Thema sein. Er meint: „Menschenrechtsarbeit ist immer noch hoch aktuell und gerade in der globalen Welt weiterhin von großer Bedeutung – sowohl international wie auch vor der eigenen Haustür.“
Eine lange Diskussion gab es in der Stadt darüber, wie man der drei Nürnberger Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) gedenken soll. Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru und Ismail Yasar waren 2000, 2001 und 2005 von dem rechtsradikalen Terror-Trio ermordet worden. Man entschied sich für eine Gedenktafel mit vier Ginkgobäumen. Drei stehen für die Getöteten und einer für alle weiteren, oft unbekannten Opfer von Rechtsextremismus. Im Juli dieses Jahres beschloss der Stadtrat, an Enver Simsek zu erinnern – ein Platz wurde nach ihm benannt. Er liegt im Stadtteil Langwasser, wo Simsek auch ermordet worden war. Die Benennung von Straßen oder Plätzen nach den beiden weiteren Opfern wird gerade geprüft.
Die meisten allerhöchsten NSGrößen waren vor 75 Jahren nicht im Gerichtssaal: Adolf Hitler hatte sich umgebracht, ebenso wie Joseph Goebbels und Heinrich Himmler. Martin Bormann, Hitlers „Sekretär“, war verschollen, sein Tod im Jahr 1945 wurde erst Jahrzehnte später festgestellt. Und der SS-Offizier Adolf Eichmann – ein Hauptverantwortlicher für den Holocaust – hatte sich nach Argentinien abgesetzt, wo er 1960 von israelischen Agenten aufgespürt und ein Jahr darauf in Jerusalem zum Tode verurteilt wurde.
Drei Angeklagte von Nürnberg wurden am 1. Oktober 1946 freigesprochen, sieben erhielten teils lebenslange Haftstrafen und elf die Todesstrafe. In den frühen Morgenstunden des 16. Oktober 1946 wurden zehn NS-Verbrecher in Nürnberg gehängt, darunter Joachim von Ribbentrop, Julius Streicher und Hans Frank, Statthalter im besetzten Polen. Hermann Göring hatte sich wenige Stunden zuvor mit Zyankali das Leben genommen.