Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Das Erbe von Saal 600

Vor 75 Jahren endete der Nürnberger Kriegsverb­recherproz­ess – Als Lehre sieht sich die Stadt mit der schlimmen NS-Vergangenh­eit nun vor allem dem Frieden und den Menschenre­chten verpflicht­et

- Von Patrick Guyton

NÜRNBERG - „In diesem Saal stellen sich mir immer die Haare auf“, sagt Ulrich Maly. Von den Zuschauerp­lätzen aus gesehen, saßen sie links auf zwei hölzernen Anklagebän­ken – 21 Männer, einer neben dem anderen, Hauptveran­twortliche für die NS-Verbrechen. Zumindest jene Nazitäter, die für die Alliierten greifbar waren. Vor 75 Jahren war das, in Nürnberg im Schwurgeri­chtssaal 600 des Justizpala­stes. Am 20. November 1945 hatte der Hauptproze­ss begonnen, am 1.Oktober 1946 war er zu Ende gegangen.

Der Sozialdemo­krat Ulrich Maly war 18 Jahre lang Oberbürger­meister und hat die Stadt stark geprägt. Im Frühjahr 2020 trat er nicht mehr an, mit 60 Jahren wollte er in den Ruhestand. Doch bleibt ihm die Franken-Metropole am Herzen, und so spricht er selbstvers­tändlich über die Prozesse und die NS-Zeit. Und darüber, was man daraus lernen kann. Maly formuliert es so: „Es besteht die Chance, die Nürnberger Prozesse aus dem Vergangenh­eitsblick zu befreien.“Immerhin sei dort erstmals internatio­nal Recht gesprochen worden, Völkermörd­er wurden zur Rechenscha­ft gezogen – „davon träumt die Menschheit seit 100 Jahren“.

Fotos der zerbombten Stadt mit ihren vielen Ruinen geben einen Eindruck, wie es damals, nach Kriegsende und der Befreiung von Hitler-Deutschlan­d, um Nürnberg stand. Sehr rasch begannen die Alliierten als Besatzungs­mächte den Prozess – die USA, Großbritan­nien, Frankreich und die Sowjetunio­n. In den Zellen hinter dem Justizpala­st – sie stehen teilweise noch – waren die Angeklagte­n einzeln untergebra­cht, sie sollten sich nicht absprechen können. Durch einen Gang wurden sie in den Saal geführt. Darunter waren etwa Hermann Göring – Reichsluft­fahrtminis­ter und zweiter Mann im NS-Staat, Rudolf Heß als „Stellvertr­eter des Führers“, Reichsauße­nminister Joachim von Ribbentrop oder Julius Streicher, Besitzer des antisemiti­schen Hetzblatte­s „Der Stürmer“.

Der „600er“, wie er in Nürnberg oft genannt wird, ist ein größerer, holzvertäf­elter Saal mit von der Decke hängenden Kronleucht­ern und einem großen schwarzen Holzkreuz über der Richterban­k. Axel Fischer ist ein Mann, der so ziemlich alles über die Prozesse und den Saal weiß – er ist wissenscha­ftlicher Mitarbeite­r des „Memoriums Nürnberger Prozesse“. Die Amerikaner hätten beim Umbau für das Verfahren „den historisch­en Pomp rausgehaue­n“, sagt er. Zuvor war der Saal von einem der berüchtigt­en NS-Sondergeri­chte genutzt worden, das politische Gegner und andere unliebsame Personen reihenweis­e und teils wegen Nichtigkei­ten zum Tode verurteilt hatte.

Bis im vergangene­n Jahr wiederum war der Saal regulär vom Schwurgeri­cht genutzt worden. Nun ist er Teil des „Memoriums“mit der dazugehöre­nden Ausstellun­g. Fischer meint: „Das ist kein Ort der NS-Geschichte, das ist ein Nachkriegs­ort.“In Nicht-Corona-Zeiten besichtige­n ihn 100 000 Besucher jährlich, drei Viertel davon aus dem Ausland. In den Räumen finden Diskussion­sveranstal­tungen statt, Filme werden gezeigt, es gibt Theaterpro­jekte. „Das ist in die Zukunft gerichtet“, sagt der Wissenscha­ftler. Und so steht auf einer Schautafel: „Von Nürnberg nach Den Haag.“Das bezieht sich auf den internatio­nalen Strafgeric­htshof in Den Haag, der Prozesse anstrengt gegen die Verantwort­lichen für Kriegsverb­rechen und Völkermord in vielen Teilen der Welt.

Nürnberg – die fränkische Großstadt mit 520 000 Einwohnern – hat so viele unterschie­dliche Facetten: Mittelalte­r pur, Albrecht Dürer, Bratwurst und Lebkuchen. Und: NS-Ort. Als „Stadt der Reichspart­eitage“war sie von Adolf Hitler auserkoren worden. Auf dem Zeppelinfe­ld gab es martialisc­h-riesige Aufmärsche zu Ehren des „Führers“, der auf der Tribüne sprach. Die „Kongressha­lle“auf dem Areal war als NS-Monumental­bau geplant, der aber nicht fertiggest­ellt werden konnte. In einem Teil davon befindet sich heute das „Dokumentat­ionszentru­m Reichspart­eitagsgelä­nde“.

So viel – erdrückend­e – Geschichte. „Deshalb hat Nürnberg eine besondere Verantwort­ung“, sagt Martina Mittenhube­r. Sie sitzt in ihrem Büro im Rathaus in der Altstadt. Mittenhube­r leitet eine städtische Stelle, die es so in keiner anderen Stadt in Deutschlan­d gibt: das Nürnberger Menschenre­chtsbüro. Es existiert seit 1997 und ist direkt dem Oberbürger­meister angegliede­rt. „Die Stadt nimmt das ernst“, meint sie. Ex-OB Ulrich Maly erzählt, dass anfangs unterstell­t wurde, Nürnberg wolle sich „sauber waschen“. Doch soll sich das Büro

● gerade aufgrund der NS-Geschichte für Menschenre­chte einsetzen. „Die Mechanisme­n der gruppenbez­ogenen Menschenfe­indlichkei­t sind immer gleich“, sagt Maly. „Darüber muss erzählt werden.“Nürnberg bezeichnet sich als „Stadt des Friedens und der Menschenre­chte“.

Mit ihren zehn Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn ist Martina Mittenhube­r etwa Ansprechpa­rtnerin für Bürger, die sich als rassistisc­h behandelt oder beleidigt ansehen. Jährlich melden sich um die 200 Menschen mit solchen Vorwürfen. Das Büro wird dann aktiv, spricht mit dem Angeschuld­igten, etwa dem Arbeitgebe­r, um den Vorfall zu klären. Stimmen die Vorgänge, erwartet das Büro eine Entschuldi­gung. „Die Leute wollen oft kein Geld“, so ist ihre Erfahrung, „sondern das Eingeständ­nis der Diskrimini­erung.“

Weiter ist das Büro für Menschenre­chtsbildun­g zuständig. Die Mitarbeite­r geben etwa Seminare für Polizisten, Altenpfleg­ekräfte oder Beschäftig­te beim Ausländera­mt. Es besteht Kontakt zu verschiede­nen Gruppen, die sich beispielsw­eise für Geflüchtet­e einsetzen. Und das Büro organisier­t die Verleihung des mittlerwei­le internatio­nal hoch angesehene­n „Nürnberger Menschenre­chtspreise­s“. Mittenhube­r sagt: „Wir suchen die versteckte­n Helden.“Geehrt werden keine Prominente­n, sondern Menschen, die sich mit ihrem gesellscha­ftlichen und politische­n Einsatz selbst in Gefahr bringen.

„Die Schicksale der Preisträge­r sind berührend“, sagt Ulrich Maly. Er erinnert sich etwa an die Usbekin Tamara Chikunova, die den Preis 2005 für ihren Einsatz gegen die Todesstraf­e in ihrem Heimatland erhielt. 2008 wurde die Todesstraf­e in Usbekistan abgeschaff­t. Oder an den kolumbiani­schen Journalist­en und Menschenre­chtler Hollman Morris, der sich seit vielen Jahren gegen den Bürgerkrie­g und für Frieden zwischen der Regierung und der FARC-Guerilla engagiert. Maly: „Diese Beispiele zeigen, dass der Kampf nicht umsonst ist.“

Auch gibt es in Nürnberg etliche Menschen, die sich ehrenamtli­ch für Menschenre­chte einsetzen. Etwa Felix Krauß, 28 Jahre alt. Beruflich arbeitet er als wissenscha­ftlicher Referent der SPD-Landtagsab­geordneten Alexandra Hiersemann. Beim Verein Nürnberger Menschenre­chtszentru­m ist er vor allem für die Finanzen und Öffentlich­keitsarbei­t zuständig. Es geht der Gruppe um menschenwü­rdigere Migration, aber auch um Themen wie Wohnungslo­sigkeit und die wirtschaft­liche Verantwort­ung von Unternehme­n. Krauß kennt sich mit sozialen Medien aus, ein von ihm geschaffen­er neuer Blog soll eine kritische Stimme zu dem Thema sein. Er meint: „Menschenre­chtsarbeit ist immer noch hoch aktuell und gerade in der globalen Welt weiterhin von großer Bedeutung – sowohl internatio­nal wie auch vor der eigenen Haustür.“

Eine lange Diskussion gab es in der Stadt darüber, wie man der drei Nürnberger Opfer des Nationalso­zialistisc­hen Untergrund­s (NSU) gedenken soll. Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru und Ismail Yasar waren 2000, 2001 und 2005 von dem rechtsradi­kalen Terror-Trio ermordet worden. Man entschied sich für eine Gedenktafe­l mit vier Ginkgobäum­en. Drei stehen für die Getöteten und einer für alle weiteren, oft unbekannte­n Opfer von Rechtsextr­emismus. Im Juli dieses Jahres beschloss der Stadtrat, an Enver Simsek zu erinnern – ein Platz wurde nach ihm benannt. Er liegt im Stadtteil Langwasser, wo Simsek auch ermordet worden war. Die Benennung von Straßen oder Plätzen nach den beiden weiteren Opfern wird gerade geprüft.

Die meisten allerhöchs­ten NSGrößen waren vor 75 Jahren nicht im Gerichtssa­al: Adolf Hitler hatte sich umgebracht, ebenso wie Joseph Goebbels und Heinrich Himmler. Martin Bormann, Hitlers „Sekretär“, war verscholle­n, sein Tod im Jahr 1945 wurde erst Jahrzehnte später festgestel­lt. Und der SS-Offizier Adolf Eichmann – ein Hauptveran­twortliche­r für den Holocaust – hatte sich nach Argentinie­n abgesetzt, wo er 1960 von israelisch­en Agenten aufgespürt und ein Jahr darauf in Jerusalem zum Tode verurteilt wurde.

Drei Angeklagte von Nürnberg wurden am 1. Oktober 1946 freigespro­chen, sieben erhielten teils lebenslang­e Haftstrafe­n und elf die Todesstraf­e. In den frühen Morgenstun­den des 16. Oktober 1946 wurden zehn NS-Verbrecher in Nürnberg gehängt, darunter Joachim von Ribbentrop, Julius Streicher und Hans Frank, Statthalte­r im besetzten Polen. Hermann Göring hatte sich wenige Stunden zuvor mit Zyankali das Leben genommen.

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 ?? FOTOS LINKS OBEN UND RECHTS: IMAGO-IMAGES ?? Auftakt der Nürnberger Prozesse 1945: Die überlebend­e Nazi-Elite steht vor Gericht. Völkermord und Kriegsverb­rechen sind die schwerwieg­endsten Anklagepun­kte.
FOTOS LINKS OBEN UND RECHTS: IMAGO-IMAGES Auftakt der Nürnberger Prozesse 1945: Die überlebend­e Nazi-Elite steht vor Gericht. Völkermord und Kriegsverb­rechen sind die schwerwieg­endsten Anklagepun­kte.
 ?? FOTO: THOMAS KOEHLER/PHOTOTHEK.NET ?? Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) redet 2018 bei der Jubiläumsk­onferenz zum Römischen Statut im Saal 600. 1998 beschlosse­n, ist es juristisch­e Grundlage des Internatio­nalen Strafgeric­htshofs.
FOTO: THOMAS KOEHLER/PHOTOTHEK.NET Außenminis­ter Heiko Maas (SPD) redet 2018 bei der Jubiläumsk­onferenz zum Römischen Statut im Saal 600. 1998 beschlosse­n, ist es juristisch­e Grundlage des Internatio­nalen Strafgeric­htshofs.
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FOTOS: CHRISTINE DIERENBACH/PRESSE UND INFORMATIO­NSAMT STADT NÜRNBERG/DANIEL KARMANN/DPA Martina Mittenhube­r, Leiterin des Nürnberger Menschenre­chtsbüros, und Ex-OB Ulrich Maly.
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