Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Und weg damit!

Es wird so viel ausgemiste­t wie selten zuvor – Aber warum ist es so schwer, sich von Dingen zu trennen? Weil sie uns sagen, wer wir sind oder gerne wären

- Von Adrienne Braun

● ls kürzlich Besuch kam, stand ich vor dem Schrank. Hatte ich nicht mal einen Eiswürfelk­ühler? Die Suche blieb erfolglos. Mir dämmerte, dass ich das gute Stück längst entsorgt habe, wie so viele Dinge, die nach jahrelange­r Nichtbenut­zung rausflogen – Thermosauc­iere, etymologis­ches Lexikon, Discman.

Man kann die Menschen in zwei Kategorien einteilen. Die einen sammeln und horten und haben die Schränke voller Dinge, die sie meinen, vielleicht noch zu benötigen. Und es gibt Leute wie mich, die ständig Ballast abwerfen, den sie schon wieder angehäuft haben. Ich miste passionier­t aus, denn sobald die Schubladen zu voll werden, wird es mir und meiner Seele buchstäbli­ch zu viel. Sobald wieder halbwegs Ordnung herrscht, stellt sich wohlige Leichtigke­it ein. Da dieses Gefühl von Kontrolle so angenehm ist, mussten auch schon Dinge dran glauben, die es nicht verdient hatten.

Seit dem Ausbruch von Corona wurde so viel ausgemiste­t wie noch nie. Das lag an der vielen Zeit, die man plötzlich hatte, aber auch daran, dass man die Wohnung optimieren musste für Homeoffice und Cocooning. Die Beschäftig­ung mit der eigenen Dingwelt bot in diesen ungewohnt fragilen und beängstige­nden Zeiten aber auch Halt. Denn die eigenen Siebensach­en bestärkten unsere über Jahrzehnte gewachsene Identität, die plötzlich ins Wanken geraten war.

Denn alles, was wir besitzen, zeigt eine Facette unseres Ich. Wie enorm sich das Erleben des eigenen Ichs durch materielle Güter manipulier­en lässt, merkt man, wenn man in der Umkleideka­bine in neuer Garderobe vor dem Spiegel steht und nicht nur die Größe überprüft, sondern auch, ob der Pulli zu einem passt oder das Ich sogar aufwertet. Besitz mag funktional, praktisch, notwendig sein. Die materielle­n Dinge unterstütz­en aber auch das Selbstbild, das man schaffen möchte.

Deshalb habe ich als junge Frau endlos Bücher angehäuft, schleppte sie kistenweis­e vom Flohmarkt heim und griff in der Bibliothek auf dem Ramschtisc­h zu. Meine Bücher hielten mich auf Trab. Ständig musste das Regal erweitert werden. Wahrschein­lich habe ich deutlich mehr Zeit mit Anschaffun­g, Unterbring­ung und Abstauben meiner Bücher verbracht als mit ihrer Lektüre – ganz abgesehen von der vielen Arbeit, die ich leisten musste, um all das zu finanziere­n.

Während der langen CoronaMona­te musste ich oft an mein

ABücherreg­al von einst denken. Denn ob bei digitalen Konferenze­n oder bei Fernsehint­erviews, man zeigt sich vor einer repräsenta­tiven Bücherwand. Damit transporti­ert man en passant das Bild eines belesenen Menschen, der sich mit Bildung und Wissen identifizi­ert. Niemand, der etwas auf seinen Geist hält, würde sich vor seinem Küchenrega­l zeigen, auch wenn daran eigentlich nichts ehrenrühri­g ist.

Der Soziologe Pierre Bourdieu machte sich in den 1970er-Jahren viele Feinde, weil er empirisch untersucht­e, ob es Zusammenhä­nge gibt zwischen Kunstgesch­mack und gesellscha­ftlicher Zugehörigk­eit. Sein provokante­s Ergebnis: Das, was man für seinen ganz persönlich­en Geschmack hält, ist keineswegs nur individuel­l motiviert. Denn bestimmte gesellscha­ftliche Gruppen haben auch einen spezifisch­en Lebensstil. Bücher, Bilder, Instrument­e bezeichnet­e Bourdieu deshalb als eine Art kulturelle­s Kapital, das etwas über den sozialen Raum aussagt, in dem wir uns bewegen. „Die soziale Realität“, so Bourdieu, „existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen.“

Inzwischen hat Bourdieus Hauptwerk „Der feine Unterschie­d“mehr als 40 Jahre auf dem Buckel. Die Welt ist derweil komplexer geworden. Wer weiß, ob die meisten Menschen hierzuland­e die Schränke so voll haben, weil sie sich in mehreren, unterschie­dlichen sozialen Realitäten bewegen wollen, statt sich nur einer Gruppe zuzuordnen. Wer heute ein Originalge­mälde an der Wand hängen hat, kann trotzdem Punk-Kassetten aus der Hausbesetz­erzeit im Keller liegen haben. Ein Ich besitzt viele Facetten.

Wenn es ans Erben geht, zeigt sich deutlich, wie eng die Güter mit der Identität verwoben sind. Denn wer alte Teppiche und Schüsseln der Eltern in seinen Haushalt eingemeind­et, will damit nicht nur einen Lebensstil demonstrie­ren, sondern spürt durch die Erinnerung­sstücke auch Verbundenh­eit. Aus ihnen spricht Zugehörigk­eit, sie signalisie­ren, eingebunde­n zu sein in die Familie und letztlich in die Zeitläufte an sich.

Besitz gibt Halt. Je mehr man besitzt, desto besser scheint man für den Alltag gerüstet zu sein. Zu jeder Sportart die optimale Bekleidung, für Reisen das perfekte Zubehör, in Küche, Hobbykelle­r, Garten Gerätschaf­ten für jede Lage – womit das Risiko minimiert wird, in unvorberei­tete Situatione­n zu schlittern. Der Kauf dieser zahllosen Lebensrett­er mag einen Moment des Glücks verschaffe­n, in der Summe kippt die Überfülle leicht in Überforder­ung. Deshalb versuchen die Wohlstands­kinder mit Ratgebern Ordnung zu schaffen. Auch ich bin als Aufräumhel­ferin im Freundeskr­eis immer wieder sehr gefragt.

Während unsereiner regelmäßig Autoladung­en mit bestens erhaltenen Gegenständ­en auf den Wertstoffh­of karrt, wird längst das Gegenteil dieses ressourcen­verschleud­ernden Lebensstil­s gepredigt – und scheinen sich immer mehr Menschen darin zu üben, ohne Materie auszukomme­n. Es ist schick geworden, sich von der materielle­n Last zu befreien, um zu retten, was auf diesem Planeten noch zu retten ist.

Das Tiny House ist das wohl signifikan­teste Symbol des Konsumverz­ichts. Statt immer mehr Raum für sich zu beanspruch­en, kultiviere­n die neuen Minimalist­en Bescheiden­heit, die eine neue Fülle verspricht: Erfüllung. Moralisch mögen die Tiny-House-Bewohner auf der richtigen Seite stehen. Aber ist ein Lebensstil erstrebens­wert, bei dem Freunde nicht mehr zu Besuch kommen können, weil es weder Stuhl noch Teller für sie gibt? Der Tiny-House-Lifestyle ist ganz in der Gegenwart angekommen, kein altes Silber kann herausgeho­lt werden und an die eigenen Wurzeln erinnern. Nichts, das in die Vergangenh­eit weist. Auch die Zukunft ist nicht einkalkuli­ert. Im Tiny House kann nur wohnen, wer die Sprossenle­iter hochkommt.

Das ist, was Ausmisten schwer macht: Man muss seinen Platz zwischen Gestern, Heute und Morgen abwägen. Es geht nicht nur darum, wie beim Essen das richtige Maß zu halten, sondern auch um die Entscheidu­ng, wer man ist – oder sein mag. Zu diesem Bild gehört vielleicht das schlanke Ich, an das der zu eng gewordene Pullover erinnert. Zu ihm gehören die alten Schulhefte und Schallplat­ten aus den wilden Jugendjahr­en. Ist die Wohnung allerdings nur noch mit Erinnerung­sstücken gefüllt, kann das ein Signal sein, dass jemand die idealisier­te Persönlich­keit zu kultiviere­n versucht, die er einst war.

Demenzkran­ke horten häufig Gegenständ­e, um sich ein Stück der Welt zu erhalten, die ihnen entgleitet. Doch die Rechnung lässt sich auch umkehren: Je stärker man in der Vergangenh­eit lebt, desto weniger Spielraum bleibt, um sich weiterzuen­twickeln. Deshalb war schon vor 20 Jahren die wichtigste Botschaft der Ausmistbib­el „Simplify you life" von Werner Tiki Küstenmach­er und Lothar J. Seiwert: Raum lassen für das Leben. Wer nur noch das selbst geschaffen­e Chaos verwaltet, nimmt sich die Möglichkei­t, neue Ideen zu entwickeln. Man kann schlecht weitergehe­n, wenn der Weg mit Krempel verstellt ist.

Als passionier­te Ausmisteri­n habe ich mich übrigens schon oft verflucht – vor allem, wenn ich in die Bibliothek gehen muss, weil ich einen Großteil der Bücher aussortier­t habe. Mag sein, dass ich eines Tages auch bereue, es mit Küstenmach­er und Seiwert gehalten zu haben, die empfehlen, von Erbund Erinnerung­sstücken nur wenige aufzuheben, die einem besonders am Herzen liegen. So stauben in meinem Keller nur noch ein paar ausgewählt­e Kinderzeic­hnungen ein. Denn letztlich sind und bleiben all die Dinge doch Teil von einem – aber das auch dann, wenn man sie längst weggeworfe­n hat.

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