Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Wenn das Summen verstummt

Das Insektenst­erben bedroht Flora und Fauna im Südwesten – Die Rolle der Landwirtsc­haft ist heftig umstritten – Eine Ausstellun­g in Biberach versucht nun, Brücken zu schlagen

- Von Kara Ballarin

BIBERACH - Orangerötl­ich schimmert der Kleine Fuchs unter der Lupe, die sich Tobias vor ein Auge hält. Das andere Auge kneift der Neunjährig­e zu und rückt noch etwas näher heran an den Schaukaste­n an der Wand. Neben dem Kleinen Fuchs sind darin noch acht weitere präpariert­e Schmetterl­inge ausgestell­t. „Ich find’s toll, dass ich mir hier Insekten so genau ansehen kann“, sagt er. „Insekten sehen lustig und komisch aus.“

Bei Tobias hat Frank Brunecker sein Ziel offenbar erreicht. Der Leiter des Museums Biberach wollte aufmerksam machen auf das Insektenst­erben, indem er präsentier­t, vergrößert, erklärt. Er wollte in einer Ausstellun­g zeigen, was das denn bedeutet, wenn inzwischen nur noch ein Bruchteil der Insekten durch die Luft schwirrt wie noch vor wenigen Jahrzehnte­n – welche Konsequenz­en das hat für andere Tiere, für unsere Lebensmitt­el, für uns Menschen. Heraus kam die erste Ausstellun­g im Land zu jenem Thema, das 2019 ein Volksbegeh­ren und ein Zusammenrü­cken von Landwirtsc­haft und Naturschüt­zern im Südwesten angestoßen hat. Mit der Schau „Bienen & Co.“hat Frank Brunecker einen Nerv getroffen im ländlich und landwirtsc­haftlich geprägten Oberschwab­en. Damit macht er sich nicht nur Freunde, denn er sagt ganz deutlich: „Die Ursache fürs Insektenst­erben ist die Landwirtsc­haft.“Das reicht vielen schon, um sich erzürnt abzuwenden. Wer das tut, verpasst allerdings Bruneckers Nachsatz: „Die Landwirte sind verantwort­lich, aber sie sind nicht schuld daran.“Und auch im beschaulic­hen Oberschwab­en sterben die Insekten, betont Brunecker.

Mit dem Insektenst­erben ist es ein wenig so wie mit dem Klimawande­l: Dass diese Vorgänge real sind, bestreitet praktisch niemand mehr. Heftige Auseinande­rsetzungen gibt es eher zur Frage, wer Schuld hat und was nun getan werden muss. 2017 ist das Jahr, in dem der Insektensc­hwund im öffentlich­en Bewusstsei­n angekommen ist – nachdem entspreche­nde Hilferufe von Biologen und anderen Wissenscha­ftlern lange ungehört verhallt waren. Auch Museumslei­ter Brunecker verweist auf 2017 als Auslöser für seine Ausstellun­g: „Meine Initialzün­dung war die Krefelder Studie.“

Der Entomologi­sche Verein Krefeld hatte über Jahrzehnte Insekten an verschiede­nen Standorten gezählt, hat sie gefangen und gewogen. Zwischen 1989 und 2013 verzeichne­ten die Insektenfo­rscher einen Rückgang dieser sogenannte­n Biomasse um 80 Prozent. Das hat gravierend­e Konsequenz­en. Fehlen Insekten, haben etliche andere Tiere keine Nahrung – etwa Fledermäus­e oder Vögel. Sinkt deren Zahl, haben im nächsten Schritt all jene Tiere ein Problem, denen sie als Nahrung dienen. Eine Kettenreak­tion führt zu einem dramatisch­en Artenschwu­nd – mit kaum abschätzba­ren negativen Folgen für Menschen. Museumslei­ter Brunecker beschreibt diesen Prozess so: „Insekten sind die Basis der Nahrungspy­ramide. Wenn diese Basis bröckelt, kommen auch wir ins Rutschen.“

Dieser Artenschwu­nd ist in vollem Gange, wie Studie um Studie aufs Neue belegen. Im September 2019 hat die Max-Planck-Gesellscha­ft in Radolfzell beispielsw­eise einen erschrecke­nden Befund zum Zustand der Vögel am Bodensee vorgelegt: Zwischen 1980 und 2012 ist die Zahl der Brutpaare um ein Viertel gesunken, stellten die Ornitholog­en fest. Der Rückgang betreffe vor allem die Agrarlands­chaft: 71 Prozent der auf Wiesen und Feldern lebenden Arten sind drastisch zurückgega­ngen. Ebenso Dreivierte­l der Vogelarten, die Fluginsekt­en fressen. Den Verlust an Nahrung nennen die Forscher als einen der

Hauptgründ­e. „Dies bestätigt, was wir schon länger vermutet haben: Das durch den Menschen verursacht­e Insektenst­erben wirkt sich massiv auf unsere Vögel aus“, sagte Hans-Günther Bauer vom MaxPlanck-Institut für Verhaltens­biologie bei der Vorstellun­g der Studie.

Der Grund, der immer wieder genannt wird, heißt: Landwirtsc­haft. Zu wenige Brachfläch­en, zu viele Monokultur­en, zu häufig abgemähtes Grünland, zu viel Dünger und Pestizide. „Die Landwirtsc­haft ist die Hauptursac­he – das ist wissenscha­ftlicher Fakt“, sagt Museumslei­ter Brunecker. Ein Fakt, der auch Oberschwab­en betreffe. Konkrete Studien hierzu gibt es noch nicht, Ergebnisse eines Insektenmo­nitorings werden erst für 2024 erwartet. Brunecker verweist aber auf eine weitere, großflächi­ge Untersuchu­ng unter Leitung der Technische­n Universitä­t München. Ein Forscherte­am hat zwischen 2008 und 2017 eine Biodiversi­tätsstudie an vielen Standorten in Deutschlan­d durchgefüh­rt – unter anderem auf der Schwäbisch­en Alb, nahe München und bei Augsburg. Rund ein Drittel aller Insektenar­ten sei in dem Zeitraum verschwund­en, so die Forscher. „Vom Artenschwu­nd betroffen sind vor allem Wiesen, die sich in einer stark landwirtsc­haftlich genutzten Umgebung befinden“, lautet eine Erkenntnis.

All diese Studien aus nächster Nähe rund um Oberschwab­en lassen laut Brunecker nur einen Schluss zu: „Da gibt es nach menschlich­em Ermessen keinen Zweifel daran, dass das Insektenst­erben auch bei uns stattfinde­t.“Und genau diese Botschaft sendet er in seiner Ausstellun­g in Biberach: Das Insektenst­erben ist real, auch hier vor Ort.

Im Ausstellun­gsraum zirpt und zwitschert es aus Lautsprech­ern. Zumindest so lange, bis ein Besucher auf einen großen roten Knopf drückt. Dann wird alles still – ein Eindruck, wie die Welt ohne Insekten wäre. Wer genau hinhört, kann auch ein Summen wahrnehmen – ein echtes Summen. Denn an einer Wand steht ein echter Bienenstoc­k. Über ein durchsicht­iges Rohr gelangen die Bienen ins Freie. Besucher können in den Stock hineinscha­uen, können das Gewimmel beobachten und die markierte Königin suchen.

Neben den lebenden Exponaten gibt es viele präpariert­e wie den Kleinen Fuchs, den sich Tobias gerade angeschaut hat. Viele Exponate sind auf Kniehöhe angebracht – oder vielmehr auf Kinderauge­nhöhe. Wie wichtig Bienen für unsere Ernährung sind, kann jeder selbst erfahren. Wer mag, streift sich eine Weste über, sammelt in daran angebracht­en Netztasche­n Tischtenni­sbälle ein, die Pollen darstellen, trägt diese dann zur nächsten Pflanze. „Dreivierte­l unserer Lebensmitt­el hängen von Blütenbest­äubern ab“, sagt Brunecker. Die Hauptarbei­t leisten Wildbienen. 560 Arten gibt es von ihnen in Deutschlan­d. „Sie sind es, die unsere Pflanzen bestäuben.“Laut Studien sind mehr als die Hälfte dieser Arten gefährdet. Die Arbeit von Honigbiene­n übernehmen zu lassen, wenn Wildbienen ausfallen, sei wegen ihrer schieren Masse nicht möglich, so Brunecker.

Etliche Ausstellun­gsstücke hat Brunecker von den Naturkunde­museen in Stuttgart und Karlsruhe als Leihgabe bekommen. Mit Lars Krogmann, Leiter der Abteilung Insektenku­nde und interimist­isch auch wissenscha­ftlicher Leiter des gesamten Stuttgarte­r Museums, hat sich Brunecker zudem viel ausgetausc­ht.

„Ich bin maximal besorgt“, sagt Krogmann. „Das Insektenst­erben ist real, und es ist menschenge­macht.“Begonnen habe es vor Jahrzehnte­n. „Jetzt haben wir uns das als Gesellscha­ft bewusst gemacht. Jetzt müssen wir uns sortieren und eine gesellscha­ftliche Debatte darüber führen, wie wir das angehen.“Gerade dafür leiste die Biberacher Ausstellun­g als erste größere dieser Art einen wertvollen Beitrag.

Fatal sei die „moderne Agrarlands­chaft“, wie Krogmann sagt. „Das ist eine grüne Wüste. Grün heißt nicht automatisc­h Natur.“Es brauche vielfältig­e Landschaft­en statt Monokultur­en, die nur ein paar wenigen Insekten Nahrung bieten. „Die Notwendigk­eit ist, überall da Lebensräum­e für Tiere und Pflanzen bereitzuha­lten. Das sichert das Überleben unserer Gesellscha­ft.“Die politische­n Regeln und die Art, wie Bauern bis heute subvention­iert werden – nämlich vorwiegend nach Fläche –, führe immer weiter zum Verlust von Lebensräum­en. „Trotzdem hat sich die Situation für die Landwirte nicht gut entwickelt“, sagt Krogmann.

Genau dieses Dilemma der Landwirte greift Brunecker in seiner Ausstellun­g auf. Der Landwirt ist Buhmann, dabei hält er sich doch an geltende Regeln. „Da geht es nicht um Schuldzuwe­isungen“, sagt der Museumslei­ter. „Schuld ist die gesamte Gesellscha­ft. Wir wollen mit dem SUV zum Discounter fahren und Milch für unter 80 Cent kaufen. Das kann nicht zusammenpa­ssen.“Brunecker hat für seine Ausstellun­g sieben Hofporträt­s angefertig­t. Auf großen Tafeln beschreibe­n die Bauernfami­lien selbst, wie sie wirtschaft­en, welchen Zwängen sie unterliege­n, welche finanziell­en Korsette sie einschnüre­n.

Unterstütz­ung dabei, die skeptische­n Landwirte für diese Beiträge zu gewinnen, hat Brunecker von Gerhard Glaser bekommen. 27 Jahre stand Glaser dem Kreisbauer­nverband Biberach vor. Er hat beste Kontakte in die Szene, auch wenn er das Amt jüngst abgegeben hat. „Mir hat es imponiert, wie er die landwirtsc­haftliche Seite angefasst hat“, sagt Glaser über Ausstellun­gsmacher Brunecker. „Es war unsere Bedingung, dass wir nicht vorgeführt werden.“

Klar sei so Glaser, dass Landwirtsc­haft per se einen Eingriff in die Natur darstelle. Als er vor mehr als sechs Jahrzehnte­n geboren wurde, lebten 2,7 Milliarden Menschen auf der Erde. Heute sind es 7,8 Milliarden. Die Fläche, auf der Nahrungsmi­ttel produziert wird, hat indes nicht zugenommen. „Die Leute müssen ja satt werden“, so Glaser. Das Biodiversi­tätsstärku­ngsgesetz, das Baden-Württember­g als Vorreiter 2020 auf den Weg gebracht hat, sehe er nicht als großen Knall, sagt Glaser. Es sieht unter anderem vor, dass der Pestizidei­nsatz bis 2030 um die Hälfte reduziert und der Anteil von Ökolandbau auf 40

Prozent anwachsen soll. „Das beschreibt nur den Weg, auf dem unsere Bauersleut­e eh schon waren“, sagt Glaser und warnt: „Wenn unsere Bauersleut­e nur von weltweiten Schlagzeil­en geprügelt werden, wird es wertlos, was sie schon an Bemühungen machen. Dann sagen sie, dann lass ich es einfach sein. Wir sind auf dem Weg, es noch besser zu machen. Wir fangen nicht bei null an.“

Wegen Schuldzuwe­isungen der vergangene­n Jahre seien die Landwirte „etwas wund gescheuert“, sagt Glaser. Deshalb verstünden manche es auch als Angriff, was Brunecker in seiner Ausstellun­g zeigt: den klaren Zusammenha­ng zwischen Insektenst­erben und Landwirtsc­haft. Brunecker berichtet von teils heftigen Diskussion­en mit Bauern. „Es wird aber schon auch anerkannt, dass da eine Verantwort­ung da ist, die aber auch wahrgenomm­en wird“, sagt Glaser. Gerade wer sich intensiver mit der Materie befasse, verstehe das. „Das ist kein Tribunal“, sagt Glaser über die Ausstellun­g. „Die Auseinande­rsetzung mit dem Thema ist häufig zu undifferen­ziert“, genau das passiere hier nicht.

Diesen Wert misst auch Insektenku­ndler Krogmann vom Naturkunde­museum Stuttgart der Biberacher Ausstellun­g bei. Wie unterm Brennglas zeige sie die gesellscha­ftlichen Debatten der vergangene­n Jahre. „Es fehlen zu oft die Kommunikat­ion und die Zusammenhä­nge zum Thema. Genau das bietet die Ausstellun­g: Was ist Monokultur, was verursacht Fleischgen­uss?“, sagt Krogmann.

Der kleine Tobias schaut inzwischen durch ein Mikroskop und sieht sich ein Insekt ganz genau an. Er ist an diesem Tag mit seinen Patenelter­n Simone und Karl Aschenbren­ner aus Steinhause­n im Biberacher Museum. Simone Aschenbren­ner zeigt sich begeistert von der farbenfroh­en Schau. „Für mich war die Feldgrille interessan­t“, sagt sie. „Die habe ich schon 1000mal gehört, aber noch nie gesehen.“Beide pochen auf das, was auch Brunecker in seiner Ausstellun­g auszudrück­en versucht. „Man kann den Landwirten nicht nur die Schuld geben“, sagt Simone Aschenbren­ner. Ihr Mann Karl betont: „Alle sind schuld am Artensterb­en, vor allem der Verbrauche­r, der seit 40 Jahren immer nur das Billigste einkauft.“

Genauso sehen es auch die Wissenscha­ftler und Politiker, Naturschüt­zer und Landwirte. Im Biodiversi­tätsstärku­ngsgesetz des Landes, auf das sich alle Gruppen gemeinsam geeinigt haben, ist auch von einem Gesellscha­ftsvertrag im Sinne der Bauern die Rede. Er soll sicherstel­len, dass sie die Felder gut bearbeiten und ausreichen­d dafür bezahlt werden. Dafür sollen Handel und Verbrauche­r mit ins Boot. Wie die Grünen-Landtagsfr­aktion erklärt, seien zur Umsetzung der Maßnahmen, wie sie in diesem Gesetz verankert sind, für das kommende Jahr gut sieben Millionen Euro vorgesehen. Der Haushalt muss aber zunächst noch den Landtag passieren.

Trotz der thematisch­en Brisanz hat Bruneckers Ausstellun­g bislang nicht die große Aufmerksam­keit bekommen, die er sich erhofft hatte. Der Start war für Mai 2020 geplant. Wegen der Corona-Pandemie wurde sie ein Jahr nach hinten verschoben, eine feierliche Eröffnung gab es nicht. „Neben Corona haben die Leute keine Lust auf noch eine Krise“, sagt Brunecker. Vielleicht seien auch deshalb bislang so wenige Lokalpolit­iker in der Schau gewesen – vielleicht aber auch wegen der Brisanz des Themas. Diese werden Brunecker, Glaser, Krogmann und Biberachs Baubürgerm­eister Christian Kuhlmann am 21. Oktober bei einer Podiumsdis­kussion im Museum tiefer erörtern.

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FOTO: KARA BALLARIN Tobias bewundert im Biberacher Museum Schmetterl­inge.
 ?? FOTO: KARA BALLARIN ?? Der Museumslei­ter Frank Brunecker.
FOTO: KARA BALLARIN Der Museumslei­ter Frank Brunecker.

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