Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„In keiner Schulklass­e würde ein solches Verhalten geduldet“

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Die Durchstech­er: „Vertraulic­hkeit“war das zuletzt wohl am häufigsten beschworen­e Wort. Aber wie es so ist mit guten Vorsätzen: Nicht alle erfüllen sie. Nachdem „Bild“aus den gelbschwar­zen Gesprächen und über die dort angeblich geäußerte JamaikaBeg­eisterung der FDP berichtet hatte, fiel der Verdacht zunächst auf CDU und CSU. „Das fällt auf, liebe Union“, schrieb FDP-Parteivize Johannes Vogel auf Twitter, „und es nervt!“Der frühere CDU-Generalsek­retär Peter Tauber ergänzte: „Das war schon in meiner Zeit als GS so und jeder wusste, wer es ist.“Damals galten einige Christsozi­ale und Christdemo­kraten als „übliche Verdächtig­e“. Aber: Erwiesen ist nichts. Fragt man danach, wer profitiert, sieht die Sache auf den ersten Blick wie eine Jamaika-Unterstütz­ung und damit wie eine Stärkung von CDUChef Laschet aus. Auf den zweiten Blick erweist sie sich als das genaue Gegenteil: Die FDP rückt öffentlich ab von der Union – und selbst die größten Jamaika-Fans werden das nachvollzi­ehen können.

Das Selfie:

Vier Politiker fotografie­ren sich, und das Internet explodiert. Tausendfac­h wurde das Bild, mit dem Annalena Baerbock, Robert Habeck (Grüne), Christian Lindner und Volker Wissing (FDP) den Beginn ihrer „Vorsondier­ungen“dokumentie­rt haben, in den sozialen Netzwerken geteilt und parodiert. Das Medium Instagram wurde dabei bewusst gewählt.

BERLIN - Die stellvertr­etende Unionsfrak­tionschefi­n Katja Leikert (Foto: Imago Images) mahnt ihre Partei zur Selbstbehe­rrschung und analysiert im Gespräch mit Christoph Ziedler die Fehler, die zur historisch­en Wahlschlap­pe geführt haben.

Ihr Parteichef wird öffentlich demontiert, obwohl es noch eine kleine Restchance auf Jamaika gibt. Was ist da los?

Es täte manchen in meiner Partei gut, sich an das schöne Wort von der Selbstbehe­rrschung zu erinnern. Besonders konservati­v war der Umgang der vergangene­n Tage übrigens auch nicht. Wir brauchen unbedingt eine ehrliche und schonungsl­ose Analyse des Wahlausgan­gs. Solange wir noch in Gesprächen stecken, sind persönlich­e Ambitionen oder Befindlich­keiten aber fehl am Platz.

Offenbar wurde die Vertraulic­hkeit der Gespräche gebrochen, die der Union theoretisc­h die Macht sichern könnten. Was ist aus den bürgerlich­en Tugenden der Union geworden?

In keiner Schulklass­e würde ein solches Verhalten geduldet. Schülerinn­en und Schülern wird beigebrach­t, was geht und was nicht geht – es ist zutiefst unbürgerli­ch, sich nicht an die ausgegeben­en Spielregel­n zu halten. Die gezielte Durchstech­erei grenzt an parteischä­digendes Verhalten. Auch wenn die Chancen dafür nicht mehr groß sind, fände ich eine Zukunftsko­alition mit nachhaltig­er Finanzpoli­tik weiter attraktiv.

Der aktuelle Ärger hat auch mit der Kommunikat­ion direkt nach der Wahl zu tun: Hätte man nicht die Niederlage eingestehe­n, der Ampel den Vortritt lassen und sich für Jamaika nur aus staatspoli­tischer Verantwort­ung bereithalt­en sollen?

Sicherlich hat Armin Laschet nicht alles richtig gemacht, ich habe von ihm aber auch keine Siegerpose gesehen, sondern ihn sehr demütig erlebt – in der Fraktionss­itzung hat er sogar um Entschuldi­gung gebeten. Uns ist wohl bewusst, dass der Ball im Spielfeld der SPD liegt und wir als Volksparte­i mit unter 25 Prozent – wenn ich mal in die Sprache der Industrie wechseln darf – am Markt vorbei produziert haben. Es ist aber auch zu billig, alles am Kandidaten festzumach­en, Selbstkrit­ik ist gefragt. Unsere Probleme sind viel tiefgehend­er.

Wollen Sie den Anfang machen? Wir Konservati­ven sollten die Themen, die andere Parteien aufbringen, nicht immer nur als Lifestyle abtun. Warum haben wir uns so lange gegen das Tierwohl gestemmt? Der Kohleausst­ieg kommt zu spät, die garantiert­e Ganztagsbe­treuung auch. Wir haben das Thema der sozialen Gerechtigk­eit vernachläs­sigt, das Auseinande­rdriften der Vermögense­ntwicklung zu sehr kleingered­et und Abstiegsän­gste der Mitte nicht ausreichen­d wahrgenomm­en. Wir sollten der Angst vor einem sozialen Abstieg aber nicht mit den Mitteln der AfD begegnen. Unsere Wirtschaft braucht Zuwanderun­g. Eine Abkehr von Europa, ein Zurück in den Nationalst­aat, würde unser Land kaputt machen. Statt auf der Bremse zu stehen, müssen wir als Partei von Helmut Kohl vielmehr mit mutigen Schritten die europäisch­e Einigung vorantreib­en.

Muss die Union nicht auch das Konzept Volksparte­i hinterfrag­en? Oder anders: Lassen sich Katja Leikert, Friedrich Merz oder Hans-Georg Maaßen überhaupt noch in einer Partei integriere­n?

Mit Friedrich Merz finde ich immer wieder politische Gemeinsamk­eiten. Mit ihm wird nur etwas anderes assoziiert. Unsere Aufgabe ist es vielmehr, dass wir wieder die ganze inhaltlich­e Bandbreite zulassen, die uns als Volksparte­i so attraktiv und in alle gesellscha­ftlichen Bereiche anschlussf­ähig gemacht hat. Eine Volksparte­i ist wie eine Familie, die man zusammenha­lten muss. Aber bei Maaßen hört es auf. Seine Anbiederei nach rechts außen lehne ich ab. Zum Glück haben die Wähler ein klares Urteil zu Maaßen gesprochen.

Das lustigste Zitat: Grünen-Chef Robert Habeck ist für seine philosophi­schen Gedanken und seine nachdenkli­chen Selfies mit kleinen Pferden bekannt. Durch die Sondierung­en hat er sich aber auch als kenntnisre­icher Handwerker präsentier­t. „Wenn man eine Schraube schräg einsetzt, dann wird sie nie wieder gerade“, verglich er die Gespräche zwischen FDP und Grünen mit dem Werkeln an der Schraubban­k. „Und diese Schraube ist jedenfalls in den ersten Tagen sehr gerade eingesetzt worden“, führte er aus. Auf die Frage, welche Mutter denn zur Schraube passe – die SPD oder die Union – witzelte Habeck: Er habe da an eine SpaxSchrau­be gedacht. Die brauche gar keine Mutter.

Das Essen:

Frikadelle oder vegane Wurst? Käsebrot oder Leberwurst­ersatztoas­t? Für gute Entscheidu­ngen braucht es satte Politiker. Die „Bild“berichtet, was in den Verhandlun­gen auf den Tisch kam. So kredenzte die SPD der FDP und den Grünen Quiches mit Ziegenkäse, Baguettes mit Tomate. Veganen Mozzarella gab es auch, und bei den Suppen konnten die Sondierer zwischen Kürbis und Omas Linseneint­opf wählen.

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