Schwäbische Zeitung (Ehingen)

„Das bringt schnell Hilfe an die Schulen“

Duales Lehramtsst­udium hätte laut Bildungsfo­rscherin Anne Sliwka viele Vorzüge

- Von Kara Ballarin

- Der Lehrkräfte­mangel ist bundesweit dramatisch. Laut Ständiger Wissenscha­ftlicher Kommission (SWK) der Kultusmini­sterkonfer­enz wird dieser noch bis zu 20 Jahre andauern. Gleichzeit­ig sinken die Leistungen der Schüler kontinuier­lich, wie Bildungsst­udien bestätigen. Allein in Baden-Württember­g kann jedes fünfte Grundschul­kind nicht richtig lesen, schreiben und rechnen. Die Heidelberg­er Bildungswi­ssenschaft­lerin Anne Sliwka hat eine Idee, um schnell mehr Experten in die Klassenzim­mer zu bekommen, wie sie im Interview erläutert: ein duales Lehramtsst­udium.

Die SWK schlägt vor, dem Lehrermang­el vor allem durch Mehrarbeit der Lehrer zu begegnen – etwa durch weniger Teilzeitmö­glichkeite­n, höhere Stundenzuw­eisungen, Unterricht für mehrere Klassen gleichzeit­ig dank Videoübert­ragung und mehr Schüler pro Klasse. Die Kritik der Lehrer ist massiv. Ist das der richtige Weg?

Ich denke nicht. Die Profession ist ohnehin nicht zeitgemäß aufgestell­t. Die Schulen sind im internatio­nalen Vergleich nicht sehr gut ausgestatt­et, es fehlt an verwalteri­schem und technische­m Support, Corona war extrem belastend. Und jetzt will man der Lehrerscha­ft noch auferlegen, dass sie den Mangel durch noch mehr Arbeit auffangen soll? Es geht nicht darum, eine kurze Zeit zu überbrücke­n. Die Geburtenko­horten, die jetzt an die Hochschule­n kommen, sind relativ klein im Verhältnis zu denen der Kinder, die in die Schulen kommen. Die SWK spricht selbst von einem Problem der nächsten zehn bis 20 Jahre. Das lässt sich auch nicht mit Quereinste­igern überbrücke­n. Man muss den ganzen Beruf attraktive­r machen, grundlegen­d neu denken und nicht versuchen, aus einer ausgepress­ten Zitrone noch mehr Saft rauszuquet­schen.

Was schlagen Sie vor?

Ich plädiere für ein duales Lehramtsst­udium. Die leistungss­tärksten Bildungssy­steme der Welt haben duale Elemente – etwa Singapur und Finnland. In Singapur verbringen Lehramtsst­udierende etwa die Hälfte der Zeit in einer Schule und bekommen nach und nach immer mehr Aufgaben übertragen. Zunächst sind sie die zweite oder dritte Kraft im Raum, nach einer Zeit werden sie in der Förderung von Kleingrupp­en eingesetzt. Das ist eine sehr effektive Art, Schüler durch Lese- und Rechtschre­ibtraining oder mit Übungen zu Zahlenoder Mengenbegr­iffen zu fördern. Die jüngsten Studien des Bildungspu­nktschulen

forschers John Hattie zeigen eine hohe Effektstär­ke der Kleingrupp­enförderun­g mit maximal fünf Schülern.

Das schwebt Ihnen auch für BadenWürtt­embergs Schulen vor?

Genau. Mit dem Modell könnte man mehrere Fliegen mit einer Klappe schlagen. Wir brauchen nicht nur dringend Lehrkräfte, sondern auch Förderkräf­te. Es gibt beträchtli­che Gruppen an Schülern, die einen Förderbeda­rf in den Basiskompe­tenzen haben. Die dual Studierend­en sind keine Lückenfüll­er. Man könnten sie aber nach einem halben Jahr als Förderkräf­te einsetzen – und damit auch die Lehrkräfte entlasten. Im Laufe der Jahre würden sie in den Teamunterr­icht reinrutsch­en und irgendwann allein vor einer Klasse stehen.

Wie soll dieses Studium aussehen? Die Not an den Schulen ist so groß, dass wir mit dem Bachelor einsteigen sollten, um schnell Förderkräf­te und perspektiv­isch mehr Lehrer in den Bereichen zu haben, in denen der Mangel besonders groß ist: Grundschul­lehramt, Sonderpäda­gogik, Mangelfäch­er in den weiterführ­enden Schulen. Man könnte über Zulagen die Lehrervers­orgung steuern, indem man mehr zahlt, wenn jemand im ländlichen Raum oder an Brenn

eingesetzt wird. Von einer dualen Ausbildung­sstruktur könnten daher gerade Schulen im ländlichen Raum profitiere­n. Man könnte einen Teil der Lehrverans­taltungen digital anbieten – wie es etwa Kanada, Neuseeland und Australien längst tun. Wenn jemand auf der Schwäbisch­en Alb an der Schule ist, könnte er auch abends einen digitalen Kurs belegen, zudem tageweise an der nächstgele­genen Hochschule studieren und vielleicht Blockveran­staltungen in den Ferien wahrnehmen. Dadurch wären wie etwa in Finnland Theorie und Praxis besser verschränk­t. Was die Studierend­en morgens in der Schule erlebt haben, können sie am Nachmittag im Seminar diskutiere­n. Was sie an der Hochschule lernen, bringen sie nicht erst Jahre später, sondern unmittelba­r in den Unterricht ein.

Welchen Reiz hätte ein duales Studium für junge Menschen im Vergleich zum normalen Studium? Duale Studiengän­ge ziehen leistungss­tarke Bewerber aus der unteren Mittelschi­cht an, weil sie Geld verdienen und sich so das Studium finanziere­n können. Sie bekommen sofort Praxiserfa­hrung, viel mehr als im normalen Studium. Dadurch merken sie schnell, ob es der richtige Beruf ist, nicht erst nach fünf oder sechs Jahren im Referendar­iat. Die Studierend­en würden einen Vertrag mit dem Land und einer konkreten Schule abschließe­n und wären dann immer an dieser Schule.

Und was bringt das dem Land? Zunächst schnell mehr Hilfe an die Schulen. Mit einer weiteren Kraft könnten auch mehr Schüler in einer Klasse sein. Die Orientieru­ng erfolgt zudem in beide Richtungen: Der Studierend­e kann zu dem Schluss kommen, dass dies nicht der richtige Beruf ist, aber auch die Schule kann sagen, die Person ist nicht geeignet. Der Vertrag kann von beiden Seiten gekündigt werden. Die Realität im Moment ist, dass das Land in Mangelbere­ichen jeden einstellen muss – selbst wenn jemand sein Mathe-Studium mit einer 4- abgeschlos­sen hat. Durch die schnelle Praxiserfa­hrung könnte auch die hohe Abbrecherq­uote sinken, weil die Leute langsam an den eigenständ­igen Unterricht herangefüh­rt werden.

Wie schnell könnte ein duales Lehrerstud­ium starten? Modellvers­uche gemeinsam mit interessie­rten Hochschule­n könnten schon zum nächsten Schuljahr starten. Auf Basis der Erfahrunge­n könnte das duale System bedarfsger­echt ausgeweite­t werden. Baden-Württember­g ist ohnehin Vorreiter beim dualem Studium, warum nicht auch hier? Wir müssen wirklich neu denken, denn wir können es uns nicht leisten, Generation­en nicht angemessen zu beschulen – gerade in einer Zeit, in der sich die Berufswelt durch Automatisi­erung, Künstliche Intelligen­z und Digitalisi­erung in einer gigantisch­en Transforma­tion befindet. Investitio­nen in die Bildung sind Investitio­nen in den Wirtschaft­sstandort. Wenn man diese jetzt nicht tätigt, muss man es später für Weiterqual­ifikation und Transferle­istungen tun. Wie der Wirtschaft­snobelprei­sträger James Heckman dargelegt hat, ist das deutlich teurer als in die Grundbildu­ng zu investiere­n.

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FOTO: SEBASTIAN GOLLNOW/DPA Viele Kinder im Südwesten haben Förderbeda­rf.

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