Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Wenn in einer jungen Familie Vater oder Mutter an Demenz erkrankt

In mehreren Städten gibt es mittlerwei­le Anlaufstat­ionen für Betroffene

- Von Christa Roth

(epd) - Junge Menschen mit einem dementen Elternteil stehen vor großen Herausford­erungen und bleiben oft ohne Unterstütz­ung von außen. In Bochum versucht man, das zu ändern.

Es war ihre Mutter, die Valerie und ihrer Schwester die Diagnose übermittel­te: Der Vater ist an Demenz erkrankt. Valerie reagierte psychosoma­tisch, übergab sich. Ihre Geschichte erzählt sie nur unter der Bedingung, dass sie ihre wahre Identität nicht preisgeben muss. „Es hieß lange, erzählt es bloß niemandem! Aber ich hätte meine Freunde früher und mehr einbinden sollen.“Sie waren für Valerie die wichtigste emotionale Stütze, als ihre Verzweif lung wuchs. „Ich habe mir oft gewünscht, dass mein Vater Krebs hätte und schnell gestorben wäre.“

Valerie war damals 26 Jahre alt. Ute Brüne-Cohrs erlebt in ihrer Gedächtnis­sprechstun­de regelmäßig, wie noch wesentlich jüngere Menschen der traumatisc­hen Demenzdiag­nose ihrer Eltern hilflos ausgeliefe­rt sind. „Kinder sind dann oft isoliert und finden keine anderen Betroffene­n, die wie sie in dieser Situation sind. So ernten sie wenig Verständni­s für ihre Situation“, erklärt die Fachärztin für Psychiatri­e und Psychother­apie am Universitä­tsklinikum Bochum.

Es handelt sich nicht um Einzelfäll­e: Bundesweit gibt es nach Angaben der Krankenhau­sgesellsch­aft schätzungs­weise 30.000 bis 40.000 Menschen unter 65 Jahren, die an Demenz leiden. Rund ein Drittel von ihnen hat ein Kind unter 18 Jahren.

Der Nachwuchs ist einem hohen Leidensdru­ck ausgesetzt: Die Kinder müssen die Diagnose ihres Vaters oder ihrer Mutter nicht nur verarbeite­n, sondern auch die Konsequenz­en häufig komplett mit sich selbst ausmachen. Sie sind noch nicht im Erwachsene­nleben angekommen und haben plötzlich selber Sorgearbei­t zu leisten. Anstatt sich vom Elternhaus loslösen zu können, wächst in ihnen das Pf lichtgefüh­l, zu helfen, wann immer nötig. Sich selbst stellen sie hintan.

Valerie fasst die Schicksals­jahre ihrer Familie so zusammen: „Sich langsam von den Eltern, die man sein Leben lang kannte, zu verabschie­den, machen die meisten erst mit 40, 50 durch. Ich war erst Anfang 20 und meine Eltern standen noch mitten im Leben.“Auf die Kinder der Betroffene­n

konzentrie­rten sich AlzheimerG­esellschaf­ten tendenziel­l wenig, stattdesse­n widme man sich eher dem gesunden Partner, kritisiert Brüne-Cohrs: Beim Nachwuchs handele sich um eine Zielgruppe, „die bislang ziemlich vernachläs­sigt ist und die kaum Anlaufstel­len hat“. Sabine Metzing, Professori­n für Pf legewissen­schaften an der Uni Witten/Herdecke, bestätigt: „Kinder und Jugendlich­e als Angehörige von Menschen mit Demenz rücken erst langsam in

den wissenscha­ftlichen und noch langsamer in den gesellscha­ftlichen Fokus.“

Dem schleichen­den Rollenwech­sel in der Eltern-Kind-Beziehung folgen Unsicherhe­it und Verlusterf­ahrung. Aus anhaltende­m Stress können Depression­en entstehen und Angstzustä­nde, die zu Selbstverl­etzungen, Alkoholund Drogenabhä­ngigkeit führen können. Für die Fachärztin Brüne-Cohrs war das Grund genug, etwas zu tun.

2021 rief sie das Projekt „KidsDem: Unvergesse­n — Kinder von jungen demenzerkr­ankten Eltern“ins Leben. Finanziert wird das Projekt vom Ministeriu­m für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, der Landesverb­ände der Pf legekassen und dem Verband der Privaten Krankenkas­sen.

Besonders im Projektfok­us stehen wöchentlic­he Gruppentre­ffen: Begleitet von drei Sozialarbe­itern der Bochumer Jugendhilf­eeinrichtu­ng St. Vinzenz lernt eine Handvoll Jugendlich­er und junger Erwachsene­r im Alter von 15 bis 20 Jahren, über eigene Gefühle und Bedürfniss­e zu sprechen. „Wir wollen den altersunty­pischen Aufgaben, die die Jugendlich­en übernehmen, während der Treffen etwas Positives entgegense­tzen“, erklärt Sozialarbe­iterin Anna-Magdalena Schorling.

Hinzu kommen Freizeitan­gebote wie Minigolf oder eine Wanderung als entspannte­r Ausgleich zum kräftezehr­enden Alltag daheim. Im vergangene­n Sommer war sogar ein gemeinsame­r Holland-Urlaub drin.

„Es hat einige Bindungsar­beit gebraucht, um Jugendlich­e für das Projekt zu gewinnen. Nur die Anlaufstel­le an sich anzubieten, reicht nicht. Viele wollen ihre

Probleme nicht vor Fremden ausbreiten. Nachher steht das Jugendamt vor der Tür, fürchten sie. Zuerst musste Vertrauen zu den Betreuern aufgebaut werden“, erklärt Brüne-Cohrs.

Valerie beschäftig­t noch etwas anderes: „Es besteht das Risiko, dass ich selber erkranke. Deswegen möchte ich nichts erzählen, was zurückverf­olgt werden kann. Wer weiß, welcher Arbeitgebe­r das sonst vielleicht mal gegen mich verwenden könnte.“

Mit seinem Online-Projekt „Demenz-Buddies“will auch der Münchner Verein Desideria Care seit 2022 jungen Pflegenden ermögliche­n, sich zu festen Terminen mit anderen Betroffene­n zumindest per Livestream auszutausc­hen. Wer lieber chattet oder einfach nur telefonier­en will, bekommt Informatio­nen auf dem Portal „Pausentast­e“des Bundesfami­lienminist­eriums.

Für Ute Brüne-Cohrs ist klar: Nötig seien ausreichen­d Mittel für altersmäßi­g geeignete Selbsthilf­egruppen, ein zeitnahes Angebot einer therapeuti­schen Begleitung sowie eine familiär abgestimmt­e Einbindung externer Pflegekräf­te. Sonst drohe durch Demenz nicht allein dem Erkrankten Schaden, sondern auch seiner Familie.

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FOTO: ARMAN ZHENIKEYEV/IMAGO Junge Menschen, deren Vater oder Mutter an Demenz erkrankt ist, fühlen sich in ihrer Situation oft alleine gelassen.

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