Erleuchtung in der Stadt des Lichts?
Nach der gewaltigen Umstrukturierung will die deutsche Nationalelf gegen Frankreich EM-Euphorie entfachen
- Die Zahlenkombination 23.03.2023 hat was. Vergangenes Jahr lockten diese Ziffern zahlreiche Paare an, die sich an diesem hübschen Datum trauten, den Bund der Ehe zu schließen. Beim FC Bayern München dagegen steht dieses leicht zu merkende Datum für eine Scheidung. Julian Nagelsmann wird sich bestens erinnern an jenen Tag X, der sich diesen Samstag zum ersten Mal jährt. Und das just auf Dienstreise in Lyon, wenn der Bundestrainer beim EMTest gegen Frankreich (21 Uhr, ZDF) die deutsche Nationalmannschaft zum fünften Mal in einem Länderspiel coacht.
Der 23. März 2023 war Ende und Anfang zugleich für den gebürtigen Bayern. Vier Tage vor jenem Donnerstagabend hatten die Münchner trotz Führung mit 1:2 bei Bayer Leverkusen verloren und dadurch die Tabellenführung an Borussia Dortmund abgeben müssen. Nun, genau ein Jahr nachdem für Nagelsmann in München vorzeitig Schluss war, soll er die Bayern-Profis um Jamal Musiala, Joshua Kimmich & Co. auf die rechte Spur Richtung EM führen. Mit Erfolg? Und dann? Alles offen.
In der Gegenwart soll Nagelsmann mit dem Länderspiel-Doppelpack in Lyon gegen Vize-Weltmeister und EM-Topfavorit Frankreich sowie vier Tage danach in Frankfurt gegen die Niederlande geradezu Wunder bewirken. Erstens: Ergebnisse liefern. Bisher gab es unter Nagelsmann in vier Partien nur einen Sieg (gegen die USA) und zwei Pleiten, beim völlig verkorksten Länderspiel-Fenster im November (2:3 gegen die Türkei, 0:2 in Österreich). Viel mehr noch: Der Projektleiter Heim-EM soll für einen Aufschwung sorgen und – klingt vermessen, ist aber so – Euphorie
bei den Fans erzeugen. Eine Neuauflage des Sommermärchens der WM 2006? Klingt nach der Klimakrise rund um die Nationalelf aktuell eher abenteuerlich bis utopisch. Aber man soll ja, siehe Nagelsmanns wilde 366 Tage seit dem Ausflug ins Zillertal, niemals nie sagen.
„Alles negativ, schlimm und schlecht – das bringt uns nichts! Wir haben zwei extrem wichtige Spiele“, sagte der Bundestrainer unter anderem mit Blick auf die heftige Kritik am Ausrüsterwechsel (siehe Text unten). „Da habe ich viele Kapazitäten, die ich aber allein
für den Fußball brauchen werde. Das ist meine Baustelle.“
Lyon, die Hauptstadt der Region Rhône-Alpes, wird auch die Stadt des Lichts genannt. Ob dem DFB und Nagelsmann mit dem Test gegen Frankreich um Superstar Kylian Mbappé ein solches aufgeht? Wird der Kick erhellend oder die Stimmungslage nicht mal drei Monate vor dem Eröffnungsspiel in München gegen Schottland noch düsterer ? Was, wenn Nagelsmanns nun eingeleiteter Kaderumbruch und die Neusortierung der teaminternen Hierarchie durch seine mutige Nominierungspolitik (sechs
Neulinge, drei Rückkehrer) auch nicht zum Erfolg führt?
„Ich kann mir kein Szenario vorstellen, bei dem Julian Nagelsmann nicht am 14. Juni gegen Schottland auf der Bank sitzt“, sagte DFB-Geschäftsführer Andreas Rettig zu „Bild“. Selbst bei zwei krachenden Niederlagen gegen die bewusst ausgewählten hochklassigen Gegner? Nagelsmanns Job-Garantie gilt also, wie sein im September geschlossener Vertrag, bis Turnierende – wann immer das sein wird. „Wenn man irgendwo teilnimmt, sollte man gewinnen wollen, selbst beim ,Mensch ärgere
Dich nicht’“, sagte er vor dem Klassiker gegen Frankreich und betonte: „Ich will immer gewinnen, deswegen habe ich auch viel Streit mit meiner Mama.“Seine indirekte Drohung: „Sonst machen wir lieber Urlaub.“
Kann Nagelsmann mit Rückkehrer Toni Kroos als neuem Fixpunkt im Mittelfeld und dem Auseinanderreißen des langjährigen Sechser-Duos Joshua Kimmich (wie bei Bayern nun auch beim DFB wieder Rechtsverteidiger) und Leon Goretzka (neben der Dortmunder Schar der Enttäuschten das prominenteste Nominierungsopfer) ein Aha-Erlebnis schaffen? Können so die bösen Geister der drei vergangenen Turniere, die unter Vorvorgänger Joachim Löw und Vorgänger Hansi Flick versaubeutelt wurden, vertrieben werden?
Nagelsmann, mit seinen immer noch erst 36 Jahren tatkräftig wie tatendurstig, hat angedeutet, sich ab der kommenden Saison auch gerne wieder in die tägliche Vereinsarbeit stürzen zu wollen. Er will vor dem EM-Start Klarheit über seine Zukunft. „Erfolgreiche Trainer schickt man nicht weg“, sagte Rettig. Und nicht erfolgreiche?