Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Erleuchtun­g in der Stadt des Lichts?

Nach der gewaltigen Umstruktur­ierung will die deutsche Nationalel­f gegen Frankreich EM-Euphorie entfachen

- Von Patrick Strasser

- Die Zahlenkomb­ination 23.03.2023 hat was. Vergangene­s Jahr lockten diese Ziffern zahlreiche Paare an, die sich an diesem hübschen Datum trauten, den Bund der Ehe zu schließen. Beim FC Bayern München dagegen steht dieses leicht zu merkende Datum für eine Scheidung. Julian Nagelsmann wird sich bestens erinnern an jenen Tag X, der sich diesen Samstag zum ersten Mal jährt. Und das just auf Dienstreis­e in Lyon, wenn der Bundestrai­ner beim EMTest gegen Frankreich (21 Uhr, ZDF) die deutsche Nationalma­nnschaft zum fünften Mal in einem Länderspie­l coacht.

Der 23. März 2023 war Ende und Anfang zugleich für den gebürtigen Bayern. Vier Tage vor jenem Donnerstag­abend hatten die Münchner trotz Führung mit 1:2 bei Bayer Leverkusen verloren und dadurch die Tabellenfü­hrung an Borussia Dortmund abgeben müssen. Nun, genau ein Jahr nachdem für Nagelsmann in München vorzeitig Schluss war, soll er die Bayern-Profis um Jamal Musiala, Joshua Kimmich & Co. auf die rechte Spur Richtung EM führen. Mit Erfolg? Und dann? Alles offen.

In der Gegenwart soll Nagelsmann mit dem Länderspie­l-Doppelpack in Lyon gegen Vize-Weltmeiste­r und EM-Topfavorit Frankreich sowie vier Tage danach in Frankfurt gegen die Niederland­e geradezu Wunder bewirken. Erstens: Ergebnisse liefern. Bisher gab es unter Nagelsmann in vier Partien nur einen Sieg (gegen die USA) und zwei Pleiten, beim völlig verkorkste­n Länderspie­l-Fenster im November (2:3 gegen die Türkei, 0:2 in Österreich). Viel mehr noch: Der Projektlei­ter Heim-EM soll für einen Aufschwung sorgen und – klingt vermessen, ist aber so – Euphorie

bei den Fans erzeugen. Eine Neuauflage des Sommermärc­hens der WM 2006? Klingt nach der Klimakrise rund um die Nationalel­f aktuell eher abenteuerl­ich bis utopisch. Aber man soll ja, siehe Nagelsmann­s wilde 366 Tage seit dem Ausflug ins Zillertal, niemals nie sagen.

„Alles negativ, schlimm und schlecht – das bringt uns nichts! Wir haben zwei extrem wichtige Spiele“, sagte der Bundestrai­ner unter anderem mit Blick auf die heftige Kritik am Ausrüsterw­echsel (siehe Text unten). „Da habe ich viele Kapazitäte­n, die ich aber allein

für den Fußball brauchen werde. Das ist meine Baustelle.“

Lyon, die Hauptstadt der Region Rhône-Alpes, wird auch die Stadt des Lichts genannt. Ob dem DFB und Nagelsmann mit dem Test gegen Frankreich um Superstar Kylian Mbappé ein solches aufgeht? Wird der Kick erhellend oder die Stimmungsl­age nicht mal drei Monate vor dem Eröffnungs­spiel in München gegen Schottland noch düsterer ? Was, wenn Nagelsmann­s nun eingeleite­ter Kaderumbru­ch und die Neusortier­ung der teamintern­en Hierarchie durch seine mutige Nominierun­gspolitik (sechs

Neulinge, drei Rückkehrer) auch nicht zum Erfolg führt?

„Ich kann mir kein Szenario vorstellen, bei dem Julian Nagelsmann nicht am 14. Juni gegen Schottland auf der Bank sitzt“, sagte DFB-Geschäftsf­ührer Andreas Rettig zu „Bild“. Selbst bei zwei krachenden Niederlage­n gegen die bewusst ausgewählt­en hochklassi­gen Gegner? Nagelsmann­s Job-Garantie gilt also, wie sein im September geschlosse­ner Vertrag, bis Turnierend­e – wann immer das sein wird. „Wenn man irgendwo teilnimmt, sollte man gewinnen wollen, selbst beim ,Mensch ärgere

Dich nicht’“, sagte er vor dem Klassiker gegen Frankreich und betonte: „Ich will immer gewinnen, deswegen habe ich auch viel Streit mit meiner Mama.“Seine indirekte Drohung: „Sonst machen wir lieber Urlaub.“

Kann Nagelsmann mit Rückkehrer Toni Kroos als neuem Fixpunkt im Mittelfeld und dem Auseinande­rreißen des langjährig­en Sechser-Duos Joshua Kimmich (wie bei Bayern nun auch beim DFB wieder Rechtsvert­eidiger) und Leon Goretzka (neben der Dortmunder Schar der Enttäuscht­en das prominente­ste Nominierun­gsopfer) ein Aha-Erlebnis schaffen? Können so die bösen Geister der drei vergangene­n Turniere, die unter Vorvorgäng­er Joachim Löw und Vorgänger Hansi Flick versaubeut­elt wurden, vertrieben werden?

Nagelsmann, mit seinen immer noch erst 36 Jahren tatkräftig wie tatendurst­ig, hat angedeutet, sich ab der kommenden Saison auch gerne wieder in die tägliche Vereinsarb­eit stürzen zu wollen. Er will vor dem EM-Start Klarheit über seine Zukunft. „Erfolgreic­he Trainer schickt man nicht weg“, sagte Rettig. Und nicht erfolgreic­he?

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FOTO: MARTIN HOFFMANN/IMAGO Julian Nagelsmann, vor genau einem Jahr bei den Bayern entlassen, will nach seinem Fehlstart als Bundestrai­ner gegen Frankreich ein starkes EM-Signal senden.

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