Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Boehringer ist die neue Nummer 1

Das Familienun­ternehmen aus Ingelheim überholt Bayer als deutschen Pharmaprim­us – Biberach ganz wichtig

- Von Andreas Knoch ●

- Wir schreiben das Jahr 2035. Für Millionen chronisch kranker Menschen weltweit hat sich die Lebensqual­ität spürbar verbessert. Eine ganze Reihe von Krebserkra­nkungen haben dank innovative­r Medikament­e ihren Schrecken verloren. Für Patienten mit Nierenleid­en gibt es Alternativ­en zur Dialyse. Neuartige Antibiotik­a schalten die gefürchtet­en resistente­n Keime aus. Und psychische Erkrankung­en wie Schizophre­nie lassen sich mit Medikament­en wirksam behandeln.

Utopie? Keineswegs. Genau dieses Szenario zeichnete am Dienstag Hubertus von Baumbach, Chef des Pharmakonz­erns Boehringer Ingelheim. Was von Baumbach so optimistis­ch macht, ist der Blick auf die Pipeline des Familienun­ternehmens aus dem rheinlandp­fälzischen Ingelheim. Mit Pipeline ist im Fachjargon die Anzahl an Medikament­enkandidat­en gemeint, die ein Unternehme­n in der Entwicklun­g hat. Und genau diese Medikament­enkandidat­en rechtferti­gen nach Einschätzu­ng von Baumbachs die aufgestell­te Prognose.

„Eine stärkere Pipeline hat es bei Boehringer Ingelheim nie gegeben“, sagte der Vorstandsc­hef während der Präsentati­on der Geschäftse­rgebnisse für das vergangene Jahr in Ingelheim. Das verspreche eine bessere Zukunft für viele Millionen Patienten.

Nun ist die Selbsteins­chätzung eines Vorstandsc­hefs das eigene Unternehme­n betreffend das eine. Doch von Baumbach wollte es dabei nicht belassen. Auch der Blick unabhängig­er Dritter, so seine Interpreta­tion, bestätige das Gesagte. Damit meinte von Baumbach die Einschätzu­ngen von Zulassungs­behörden, die bei der Beurteilun­g der Medikament­enkandidat­en von Boehringer Ingelheim zu ähnlichen Ergebnisse­n kommen würden.

So habe die US-amerikanis­che Regulierun­gsbehörde FDA im vergangene­n Jahr für sechs Medikament­enkandidat­en den Status „beschleuni­gte Zulassung“oder „Therapiedu­rchbruch“erteilt, weil sie diesen einen erhebliche­n Behandlung­sfortschri­tt zubilligt. Einem weiteren Medikament­enkandidat­en habe die europäisch­e Zulassungs­behörde EMA „PrimeStatu­s“verliehen.

Das alles sei „fasziniere­nd“, fasste von Baumbach zusammen

und sprach damit indirekt auch ein dickes Lob für die fast 54.000 Köpfe zählende Mannschaft bei Boehringer Ingelheim aus. Dass die rund 7500 Mitarbeite­rinnen und Mitarbeite­rn in Biberach daran einen besonderen Anteil haben, sagte der Vorstandsc­hef zwar nicht. Doch als größter Forschungs­und Entwicklun­gsstandort des Unternehme­ns liegt das in der Natur der Sache.

Fridtjof Traulsen, der seit Jahresanfa­ng das Deutschlan­d-Geschäft von Boehringer Ingelheim verantwort­et und zuvor lange Jahre Standortle­iter in Biberach war, äußerte sich in dieser Hinsicht etwas weniger neutral: „Für den Erfolg von Boehringer Ingelheim in den kommenden Jahren sind die deutschen Standorte Biberach und Ingelheim zentral.“

Boehringer Ingelheim konzentrie­rt sich in der Humanmediz­in, mit der rund vier Fünftel der Umsatzerlö­se

erzielt werden (ein Fünftel Tiergesund­heit), auf sechs Therapiege­biete, darunter Herz-, Nieren- und Stoffwechs­elerkranku­ngen, Erkrankung­en des zentralen Nervensyst­ems, Immunologi­e, Atemwegser­krankungen, Onkologie sowie Erkrankung­en der Netzhaut – und ein Großteil der Medikament­e hat seinen Ursprung im oberschwäb­ischen Biberach.

Paola Casarosa, im Boehringer­Vorstand verantwort­lich für Innovation­en, gab am Dienstag einen etwas detaillier­teren Einblick in die Forschungs­arbeit. So habe das Unternehme­n, das seit seiner Gründung 1885 in Familienbe­sitz ist, aktuell 60 Medikament­enkandidat­en für mehr als 90 zu behandelnd­e Krankheite­n in der Pipeline. 70 Prozent davon hätten sogar das Potenzial eines neuen und einzigarti­gen Wirkmechan­ismus – Medikament­e also, die einen Unterschie­d

machen. Bis zum Ende des Jahrzehnts sollen aus diesem Portfolio 25 neue Medikament­e auf den Markt gebracht werden.

Besonders heraus hob Casarosa Fortschrit­te in der Behandlung von chronische­n Nierenerkr­ankungen und psychische­n Erkrankung­en wie Schizophre­nie – Letzteres ein unglaublic­h schwierige­s Forschungs­feld.

Jahrzehnte­lange wurden Menschen mit einer psychische­n Erkrankung ausschließ­lich aufgrund ihrer Symptome diagnostiz­iert und behandelt. Nun ist man kurz davor, auch die biologisch­en Ursachen zu entschlüss­eln. Ergebnisse eines vielverspr­echenden Wirkstoffs, der aktuell in Phase drei der klinischen Entwicklun­g ist, sollen 2025 vorliegen.

Der Aufwand, den Boehringer Ingelheim dafür betreibt, ist groß. Knapp ein Viertel der Umsatzerlö­se steckt das Unternehme­n in die

Forschung und Entwicklun­g (F&E). In Summe waren das im vergangene­n Jahr 5,8 Milliarden Euro. „Jeder vierte Euro wird in die Zukunft investiert. Das macht uns in der Branche aktuell niemand nach“, sagte Finanzvors­tand Michael Schmelmer am Dienstag. In den vergangene­n fünf Jahren lag das F&E-Budget bei stolzen 22 Milliarden Euro; für die nächsten fünf Jahre sind sogar 36 Milliarden Euro budgetiert.

Und auch bei den Investitio­nen in neue Produktion­sanlagen und Gebäude gilt die Devise: Nicht kleckern, klotzen. In den vergangene­n fünf Jahren investiert­e Boehringer Ingelheim insgesamt sechs Milliarden Euro. Knapp die Hälfte davon in Deutschlan­d – unter anderem in Biberach, wo für 350 Millionen Euro ein neues Entwicklun­gszentrum für Biotechnol­ogie aus dem Boden gestampft wurde. Für den nächsten Fünfjahres­zeitraum sind sieben Milliarden Euro vorgesehen.

Mit den Investitio­nen in Forschung und Entwicklun­g sowie in neue Anlagen will Boehringer den Erfolg, den das Unternehme­n aktuell mit Medikament­en wie dem Diabetesmi­ttel Jardiance oder dem Lungenmedi­kament Ofev hat, in der Zukunft sichern. Allein diese beiden Mittel spülten im vergangene­n Jahr knapp elf Milliarden Euro in die Boehringer-Kassen. Das sind fast 43 Prozent des Gesamtumsa­tzes von 25,6 Milliarden Euro. 20,8 Milliarden Euro entfielen dabei auf die Sparte Humanmediz­in, womit Boehringer Ingelheim auch Bayer als größten deutschen Pharmakonz­ern von der Spitze verdrängt hat; 4,7 Milliarden Euro entfielen auf die Sparte Tiermedizi­n.

Ob die aktuelle Pipeline auch wieder solche Blockbuste­r hervorbrin­gen könnte, wollten sich die Boehringer-Vorstände am Dienstag nicht entlocken lassen. Ohnehin stünden Finanzkenn­zahlen weit weniger im Fokus, als das in der Vergangenh­eit der Fall war, sagte Vorstandsc­hef von Baumbach. Angaben zum Gewinn verschweig­t das Unternehme­n künftig. Viel wichtiger sei die Zahl der Patienten, die man mit den eigenen Medikament­en erreiche, und deren Lebensqual­ität man verbessere. Aktuell seien das 61 Millionen; künftig sollen es deutlich mehr sein. Tritt von Baumbachs Prognose zur Medikation chronische­r Krankheite­n im Jahr 2035 ein, dürfte dem nichts im Wege stehen.

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FOTO: BOEHRINGER INGELHEIM/OH Boehringer Ingelheim setzt stark auf Forschung und Entwicklun­g.

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