Boehringer ist die neue Nummer 1
Das Familienunternehmen aus Ingelheim überholt Bayer als deutschen Pharmaprimus – Biberach ganz wichtig
- Wir schreiben das Jahr 2035. Für Millionen chronisch kranker Menschen weltweit hat sich die Lebensqualität spürbar verbessert. Eine ganze Reihe von Krebserkrankungen haben dank innovativer Medikamente ihren Schrecken verloren. Für Patienten mit Nierenleiden gibt es Alternativen zur Dialyse. Neuartige Antibiotika schalten die gefürchteten resistenten Keime aus. Und psychische Erkrankungen wie Schizophrenie lassen sich mit Medikamenten wirksam behandeln.
Utopie? Keineswegs. Genau dieses Szenario zeichnete am Dienstag Hubertus von Baumbach, Chef des Pharmakonzerns Boehringer Ingelheim. Was von Baumbach so optimistisch macht, ist der Blick auf die Pipeline des Familienunternehmens aus dem rheinlandpfälzischen Ingelheim. Mit Pipeline ist im Fachjargon die Anzahl an Medikamentenkandidaten gemeint, die ein Unternehmen in der Entwicklung hat. Und genau diese Medikamentenkandidaten rechtfertigen nach Einschätzung von Baumbachs die aufgestellte Prognose.
„Eine stärkere Pipeline hat es bei Boehringer Ingelheim nie gegeben“, sagte der Vorstandschef während der Präsentation der Geschäftsergebnisse für das vergangene Jahr in Ingelheim. Das verspreche eine bessere Zukunft für viele Millionen Patienten.
Nun ist die Selbsteinschätzung eines Vorstandschefs das eigene Unternehmen betreffend das eine. Doch von Baumbach wollte es dabei nicht belassen. Auch der Blick unabhängiger Dritter, so seine Interpretation, bestätige das Gesagte. Damit meinte von Baumbach die Einschätzungen von Zulassungsbehörden, die bei der Beurteilung der Medikamentenkandidaten von Boehringer Ingelheim zu ähnlichen Ergebnissen kommen würden.
So habe die US-amerikanische Regulierungsbehörde FDA im vergangenen Jahr für sechs Medikamentenkandidaten den Status „beschleunigte Zulassung“oder „Therapiedurchbruch“erteilt, weil sie diesen einen erheblichen Behandlungsfortschritt zubilligt. Einem weiteren Medikamentenkandidaten habe die europäische Zulassungsbehörde EMA „PrimeStatus“verliehen.
Das alles sei „faszinierend“, fasste von Baumbach zusammen
und sprach damit indirekt auch ein dickes Lob für die fast 54.000 Köpfe zählende Mannschaft bei Boehringer Ingelheim aus. Dass die rund 7500 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in Biberach daran einen besonderen Anteil haben, sagte der Vorstandschef zwar nicht. Doch als größter Forschungsund Entwicklungsstandort des Unternehmens liegt das in der Natur der Sache.
Fridtjof Traulsen, der seit Jahresanfang das Deutschland-Geschäft von Boehringer Ingelheim verantwortet und zuvor lange Jahre Standortleiter in Biberach war, äußerte sich in dieser Hinsicht etwas weniger neutral: „Für den Erfolg von Boehringer Ingelheim in den kommenden Jahren sind die deutschen Standorte Biberach und Ingelheim zentral.“
Boehringer Ingelheim konzentriert sich in der Humanmedizin, mit der rund vier Fünftel der Umsatzerlöse
erzielt werden (ein Fünftel Tiergesundheit), auf sechs Therapiegebiete, darunter Herz-, Nieren- und Stoffwechselerkrankungen, Erkrankungen des zentralen Nervensystems, Immunologie, Atemwegserkrankungen, Onkologie sowie Erkrankungen der Netzhaut – und ein Großteil der Medikamente hat seinen Ursprung im oberschwäbischen Biberach.
Paola Casarosa, im BoehringerVorstand verantwortlich für Innovationen, gab am Dienstag einen etwas detaillierteren Einblick in die Forschungsarbeit. So habe das Unternehmen, das seit seiner Gründung 1885 in Familienbesitz ist, aktuell 60 Medikamentenkandidaten für mehr als 90 zu behandelnde Krankheiten in der Pipeline. 70 Prozent davon hätten sogar das Potenzial eines neuen und einzigartigen Wirkmechanismus – Medikamente also, die einen Unterschied
machen. Bis zum Ende des Jahrzehnts sollen aus diesem Portfolio 25 neue Medikamente auf den Markt gebracht werden.
Besonders heraus hob Casarosa Fortschritte in der Behandlung von chronischen Nierenerkrankungen und psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie – Letzteres ein unglaublich schwieriges Forschungsfeld.
Jahrzehntelange wurden Menschen mit einer psychischen Erkrankung ausschließlich aufgrund ihrer Symptome diagnostiziert und behandelt. Nun ist man kurz davor, auch die biologischen Ursachen zu entschlüsseln. Ergebnisse eines vielversprechenden Wirkstoffs, der aktuell in Phase drei der klinischen Entwicklung ist, sollen 2025 vorliegen.
Der Aufwand, den Boehringer Ingelheim dafür betreibt, ist groß. Knapp ein Viertel der Umsatzerlöse steckt das Unternehmen in die
Forschung und Entwicklung (F&E). In Summe waren das im vergangenen Jahr 5,8 Milliarden Euro. „Jeder vierte Euro wird in die Zukunft investiert. Das macht uns in der Branche aktuell niemand nach“, sagte Finanzvorstand Michael Schmelmer am Dienstag. In den vergangenen fünf Jahren lag das F&E-Budget bei stolzen 22 Milliarden Euro; für die nächsten fünf Jahre sind sogar 36 Milliarden Euro budgetiert.
Und auch bei den Investitionen in neue Produktionsanlagen und Gebäude gilt die Devise: Nicht kleckern, klotzen. In den vergangenen fünf Jahren investierte Boehringer Ingelheim insgesamt sechs Milliarden Euro. Knapp die Hälfte davon in Deutschland – unter anderem in Biberach, wo für 350 Millionen Euro ein neues Entwicklungszentrum für Biotechnologie aus dem Boden gestampft wurde. Für den nächsten Fünfjahreszeitraum sind sieben Milliarden Euro vorgesehen.
Mit den Investitionen in Forschung und Entwicklung sowie in neue Anlagen will Boehringer den Erfolg, den das Unternehmen aktuell mit Medikamenten wie dem Diabetesmittel Jardiance oder dem Lungenmedikament Ofev hat, in der Zukunft sichern. Allein diese beiden Mittel spülten im vergangenen Jahr knapp elf Milliarden Euro in die Boehringer-Kassen. Das sind fast 43 Prozent des Gesamtumsatzes von 25,6 Milliarden Euro. 20,8 Milliarden Euro entfielen dabei auf die Sparte Humanmedizin, womit Boehringer Ingelheim auch Bayer als größten deutschen Pharmakonzern von der Spitze verdrängt hat; 4,7 Milliarden Euro entfielen auf die Sparte Tiermedizin.
Ob die aktuelle Pipeline auch wieder solche Blockbuster hervorbringen könnte, wollten sich die Boehringer-Vorstände am Dienstag nicht entlocken lassen. Ohnehin stünden Finanzkennzahlen weit weniger im Fokus, als das in der Vergangenheit der Fall war, sagte Vorstandschef von Baumbach. Angaben zum Gewinn verschweigt das Unternehmen künftig. Viel wichtiger sei die Zahl der Patienten, die man mit den eigenen Medikamenten erreiche, und deren Lebensqualität man verbessere. Aktuell seien das 61 Millionen; künftig sollen es deutlich mehr sein. Tritt von Baumbachs Prognose zur Medikation chronischer Krankheiten im Jahr 2035 ein, dürfte dem nichts im Wege stehen.