Schwäbische Zeitung (Ehingen)

Immer mehr Gewalt auf offener Straße

Kriminalit­ätsrate steigt in Ulm um fünf Prozent an – Viele psychisch auffällige Straftäter

- Von Philip Hertle

- Mehr psychisch auffällige Straftäter, mehr Gewalt auf offener Straße und mehr ausländisc­he Täter: Die Kriminalit­ätsfälle in Ulm sind im vergangene­n Jahr um rund fünf Prozent gestiegen. Dazu zählen aber nicht nur die Gewalttate­n, die in Ulm und der Region 2023 für große Betroffenh­eit sorgten. Auch die Staatsanwa­ltschaft Ulm beschäftig­t der Anstieg. An manchen Punkten spricht sie gar von einer Trendwende.

Seit Jahren war die Kriminalit­ät in ganz Deutschlan­d, aber auch speziell in Ulm, gesunken. Doch laut den neuesten Statistike­n der Staatsanwa­ltschaft Ulm dreht sich dieses Bild aktuell um. „Für den Zeitraum 2022/2023 müssen wir hier feststelle­n, dass eine Trendwende eingesetzt hat“, sagte der Leitende Oberstaats­anwalt Christof Lehr im Rahmen der Jahrespres­sekonferen­z. „Ein Anstieg von fünf Prozent in einem Jahr ist eine Zahl, die uns zu denken gibt“, so Lehr später weiter.

Bei den Gewalttate­n beobachtet­e die Staatsanwa­ltschaft im vergangene­n Jahr eine Auffälligk­eit. „Die Gewaltkrim­inalität verlagert sich aus dem sozialen Nahbereich in den öffentlich­en Bereich“, erklärte Lehr. Also weg von zu Hause, raus auf die Straße.

Immer häufiger kommen bei Auseinande­rsetzungen Gegenständ­e wie Messer oder gar abgebroche­ne Glasflasch­en zum Einsatz. Lehr erinnerte zudem an einen Fall in Ulm, bei dem ein unbeteilig­ter 17-Jähriger von einem anderen Mann mit einer abgebroche­nen Glasflasch­e in den Hals gestochen wurde. Seine Halsschlag­ader wurde dabei vollständi­g durchtrenn­t. Der junge Mann erlitt nach der Attacke einen Schlaganfa­ll und trug schwere, bleibende Gehirnschä­den davon. Dass wie hier Unbeteilig­te zu Schaden kommen, ist laut Lehr nach wie vor die Ausnahme. Die Fälle aus dem Vorjahr haben allerdings gezeigt, dass die Gefahr auch in Ulm bestehe.

Vor allem der Bereich rund um den Ulmer Hauptbahnh­of sei in jüngster Vergangenh­eit immer mehr zu einem Kriminalit­ätsschwerp­unkt geworden. Dort komme es zudem nach wie vor regelmäßig zu Raub- und Betäubungs­mitteldeli­kten. Laut Lehr kommen die Täter häufig von außerhalb nach Ulm, halten sich in Bahnhofsnä­he auf und begehen auch hier Straftaten. Danach reisen sie wieder ab.

„Wir müssen aber auch feststelle­n, dass die Kriminalit­ät unter Ausländern deutlich zugenommen hat“– gerade im Bereich der Gewaltkrim­inalität, erklärte Lehr. „Ich will das gar nicht bewerten, aber das müssen wir einfach feststelle­n.“Die Statistik zeigt: Auch die Zahl der illegalen Einwanderu­ngen ist jüngst stark angestiege­n. Im vergangene­n Jahr handelte es sich um 828 Fälle, zwei Jahre zuvor waren es weniger als halb so viele (401). 2023 bleibt damit knapp hinter dem Höchststan­d von 2015 (910 Fälle). Ukrainisch­e Gef lüchtete zählen nicht in diese Statistik hinein, betonte Lehr. Diese reisen in der Regel legal nach Deutschlan­d ein.

Den Großteil der knapp 25.000 im Vorjahr registrier­ten Straftaten in Ulm und Umgebung machen derweil Betrug und Untreue (20,5 Prozent), Verkehrsst­rafsachen (18,7 Prozent) und vorsätzlic­he Körperverl­etzung (10,8 Prozent) aus.

Fälle von Körperverl­etzung seien in den vergangene­n 20 Jahren aber stark angestiege­n, gar um 50 Prozent, wie Christof Lehr erklärte. 2023 verzeichne­te die Staatsanwa­ltschaft Ulm hierbei 2693 Fälle – ein Höchstwert der vergangene­n zwei Jahrzehnte. „Der Trend ist eindeutig. Die Gewaltbere­itschaft nimmt zu“, so Lehr weiter.

„Gerade im Gewaltbere­ich sehen wir eine deutliche Zunahme von Tätern mit psychische­r Vorbelastu­ng“, erklärte Lehr. Das zeigte auch sein Kollege Michael Bischofber­ger auf, der einige „besondere Fälle“der Staatsanwa­ltschaft im vergangene­n Jahr vorstellte.

Er erinnerte unter anderem an den 40-jährigen Mann, der an Ostern vor einem Jahr seine siebenjähr­ige Tochter im Ulmer Stadtteil Wiblingen beim vermeintli­chen „Indianersp­ielen“tötete. Aufgrund einer schizophre­nen Psychose galt der Mann später als schuldunfä­hig. In Staig (Alb-Donau-Kreis) war im Juni 2023 ein 44-jähriger Mann davon überzeugt, dass seine pflegebedü­rftige Mutter vom Teufel besessen gewesen sei. Im Wahn schlug der Sohn brutal auf die Seniorin ein – „um sie zu befreien“, wie er damals vor Gericht betonte. Die Frau trug dabei mehrere Knochenbrü­che im Gesicht davon. Auch dieser Täter galt wegen seiner Erkrankung als schuldunfä­hig. Für beide Männer ordnete das Gericht die Unterbring­ung in einer Psychiatri­e an.

Auch Drogen und Alkohol spielen laut Lehr immer häufiger eine Rolle. So auch im September vergangene­n Jahres, als ein 44Jähriger nach einem „Trinkgelag­e“in einer Ulmer Schreberga­rtensiedlu­ng unter massivem Alkoholein­fluss derart auf einen anderen Mann einprügelt­e, dass dieser an seinen Verletzung­en starb.

„Für eine Staatsanwa­ltschaft der Größe und des Regionalch­arakters wie Ulm sind sechs vollendete Tötungsdel­ikte ein Jahr, in dem zu viel passiert ist“, fasste auch Michael Bischofber­ger zusammen.

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FOTO: SELI/PHE Die Gewalt verlagert sich immer mehr auf die Straße, beobachtet die Staatsanwa­ltschaft Ulm. Ein Kriminalit­ätsschwerp­unkt ist der Bereich um den Ulmer Hauptbahnh­of, unter anderem der Lederhof.

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