Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Über den Glauben hinaus
Gottesdienst und Lichterprozession am Vorabend des Blutritts wecken bei den Gläubigen ein Gefühl der Gemeinschaft
- Franz Beckenbauer hätte vermutlich gesagt: „Ja is denn heut scho Weihnachten?“So viele Menschen – wie man es ansonsten eigentlich nur von Gottesdiensten an Heiligabend kennt – haben am Donnerstag den Weg in die Basilika Sankt Martin in Weingarten zur Vorabendmesse des Blutritts gefunden. Alle Sitzplätze waren belegt, auch noch weit hinter den Holzbänken reihten sich die Menschen auf. Einige hatten sogar ihren eigenen Klappstuhl dabei. Die Kirche kann in Weingarten aber nicht nur an Christi Himmelfahrt die Massen noch erreichen und begeistern. Auch beim Blutritt am Freitag, mit mehr als 2000 Reitern Europas größte Pferdeprozession, waren rund 28 000 Zuschauer dabei.
Allerdings sind der Blutritt und seine Vorabendfeier auch nicht alltäglich. Auf dem Treppenaufgang zur Basilika verkaufen Ministranten Prozessionskerzen mit rotem, blauem und grünem Windschutz für 1,50 Euro. Am Ende der Stufen warten drei schwarz gekleidete Männer mit Stöpsel im Ohr und Handschuhen an. „Security“steht auf ihren Poloshirts. Und im Gotteshaus stehen Sanitäter für den Notfall bereit: Dem leicht nach süßer Zitrone duftenden Weihrauch und dem vielen Stehen sind nicht alle gewachsen. Würden nicht die Glocken läuten, könnte man auch denken, es geht auf ein Pop-Konzert. Doch es geht in die Kirche, zu einem Gottesdienst mit Eventcharakter – ähnlich wie an Weihnachten.
Gottesdienst statt Vatertagsparty
Doch trotz des Besonderen, des Einzigartigen sind unter den Gottesdienstbesuchern – anders als an Weihnachten – keine Eintagsfliegen, die schon beim Kreuzzeichen zu Beginn ins Stocken geraten. Da ist die Oma, die eine Gehhilfe braucht, aber trotzdem beim Verlassen der Kirchenbank noch eine Kniebeuge macht. Da sind uniformierte Mitglieder der katholischen Pfadfinder, die anstatt Vatertagsparty Gottesdienst feiern wollen. Da sind keine Schaulustigen; auch wenn hier und da mal das Smartphone gezückt wird. Nein, mit Inbrunst erschallt das „Halleluja“durch das weiße Gewölbe der Basilika. Mit einem Lächeln im Gesicht geben sich Wildfremde beim Friedensgruß die Hand. Ausgestattet mit Rucksack und festem Schuhwerk – nicht mit Anzug und Krawatte – sind sie nach Weingarten in die Basilika gepilgert, um das Gefühl der Gemeinschaft zu erleben. Im Gottesdienst, aber auch bei der Lichterprozession danach.
Noch in der Basilika ist durch das Kirchentor das Abendgold der bereits untergegangenen Sonne am Horizont zu erblicken. Langsam setzen sich die Gläubigen in Gang und verlassen die Basilika. Am Ausgang entzünden sie ihre Kerzen. Auf dem Kirchenvorplatz entsteht ein Lichtermeer, das Richtung Innenstadt fließt. Von den Stufen, die von der Basilika nach unten führen, ist von oben nichts mehr zu sehen. Mensch für Mensch, Kerze für Kerze schreitet voran. In der linken Hand das Licht, in der rechten Hand der Liedzettel. Über Lautsprecher schallen Gebete über die Köpfe der Gläubigen: Ein Ave Maria folgt auf ein Vaterunser. Ein Vaterunser folgt auf ein Glaubensbekenntnis. Und Gesang. Der Duft von Weihrauch wird zwischen Häusern kurz vom Geruch nach Frittenfett übertüncht. Schaulustige stehen am Wegrand. Lichter schmücken die Fenstersimse. Der Menschenfluss weist den Weg, Seile begrenzen ihn. Der Blick nach vorne ist dunkel, der Blick nach hinten schimmert rotgelb. Der Lichterfluss läuft inzwischen den Kreuzberg hinauf.
An der Spitze des Hügels thront eine hell erleuchtete Kapelle und ein metergroßes Kreuz dahinter. Ministranten mit prunkvollen Fahnen in der Hand und Fackelträger stehen rechts und links daneben. Die Gläubigen versammeln sich am Fuß des Berges, blicken zum Gekreuzigten in der Kapelle hinauf. Sie beten, sie singen. Die Nacht im Schatten der Bäume wird zum Tag erhellt.
„Schön“und „beeindruckend“beschreibt Laura Fricker aus Opfenbach, südlich von Wangen, das Erlebte. Sie hat die Lichterprozession zum ersten Mal begleitet. Ihre Freundin, Verena Hänsler aus Wangen, hat die 21-Jährige mitgenommen. Sie kennt den Blutritt samt Vorabend, „seit ich denken kann“. So ähnlich ist auch bei ihrem Vater Klaus Hänsler. Als eines von insgesamt neun Kindern hätten ihn seine Eltern immer mitgenommen. Inzwischen ist es „Tradition“, sagt der 55-Jährige, die seine Tochter weiterlebt: Fremde Menschen werden zu einer Gemeinschaft, jeder könne Teil davon sein; das gefällt der 20-Jährigen an der Prozession. Ein Ereignis, das über den Glauben hinausgehe.