Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
Boris Palmer beklagt in seinem Buch Fehler im Flüchtlingskurs
Werk trägt den Titel „Wir können nicht allen helfen“– Angeeckt ist der Grünen-Politiker in den eigenen Reihen schon oft
- Scheinwerferlicht, Kameras surren, der Saal ist voll, und das Buch schnell vergriffen. Alle Augen sind auf Boris Palmer gerichtet. Großer Aufritt für den Tübinger Oberbürgermeister am Donnerstagmorgen in der Hauptstadt. Der „grüne Provokateur“ist gekommen, um sein neues Buch zu präsentieren, das bereits im Vorfeld für jede Menge Wirbel gesorgt hat. „Wir können nicht allen helfen“, steht dort in grünen Lettern auf dem Umschlag geschrieben.
„Schade“, sagt Julia Klöckner, „dass das Buch diesen Titel trägt.“Ausgerechnet die junge CDU-Vizechefin hat Palmer gebeten, sein Werk vorzustellen, die Frau, die für ein Burka-Verbot kämpft und Angela Merkels Kurs in der Flüchtlingspolitik infrage gestellt hatte. Die aufstrebende Schwarze und der unbequeme Grüne Schulter an Schulter – Palmers Parteifreunde dürften es mit Argwohn sehen. „Ein grüner Oberbürgermeister spricht Klartext“, wirbt der Verlag. Nur wenn man die Probleme offen benenne, könne man den Rechtspopulisten das Wasser abgraben.
„Dieses Buch taugt nicht zum Skandal“, stellt CDU-Frau Klöckner gleich zu Beginn klar. Vielmehr liefere Palmer auf den 256 Seiten eine realistische Analyse zur Flüchtlingspolitik, „ein Plädoyer gegen die Schubladenpolemik“, nimmt Klöckner den Autor gegen die Kritik in Schutz, nennt ihn einen „Verantwortungsethiker“jenseits von Schwarz-WeißMalerei.
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise hatte Palmer – anders als seine Parteifreunde – Merkels Kurs und ihr „Wir schaffen das“infrage gestellt. Mit seinen Forderungen nach stärkeren Grenzkontrollen, konsequenteren Abschiebungen und Änderungen des Asylrechts machte er sich in seiner Partei wenig Freunde, wurde angefeindet und erlebte in den Sozialen Netzwerken den einen oder anderen Shitstorm.
Im Unterschied zu vielen anderen, die im Internet kein gutes Haar an dem Buch und an Palmer lassen würden, habe sie das Buch gelesen, sagt Klöckner. Es biete Diskussionsstoff und trage zur Versachlichung bei. Palmer – ein „grüner Sarrazin“, wie ihn seine Kritiker sehen? Er habe nicht über eine Tübinger Insel geschrieben, versichert Palmer. Das Bild lasse sich in jeder anderen Stadt auch finden. Die Probleme bei der Bereitstellung von Unterkünften, die Sorgen der Bürgerinnen und Bürger in der Nachbarschaft, hitzige Stadtratssitzungen und Schwierigkeiten, mit denen auch viele andere Stadtoberhäupter auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise zu kämpfen hatten.
Palmers Vorwurf an die Kanzlerin: Merkel habe die Flüchtlingsdebatte „moralisch aufgeladen“. „Sie hat gesagt, es gebe den Imperativ, all diesen Menschen zu helfen“, kritisiert der Grüne einen moralischen Anspruch, der sich als nicht einlösbar erwiesen habe. Keine Spur von der sonst üblichen Aufregung an diesem Morgen bei der Buchpräsentation vor der Hauptstadtpresse, die es sonst nicht nur im Netz gibt, wenn Palmer erklärt, Brasilien sei nicht weniger gefährlich als Afghanistan und sich für Abschiebungen an den Hindukusch ausspricht.