Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Britische Wirtschaft wehrt sich gegen harten Brexit

Mays Einwanderu­ngspläne sorgen für Entsetzen – Brexit-Gesetz soll heute erste Hürde im Parlament nehmen

- Von Sebastian Borger

LONDON - Wirtschaft­sverbände und Unternehme­n in Großbritan­nien wenden sich von den Brexit-Plänen der konservati­ven Regierung ab. Mit ungewohnte­r Vehemenz kritisiert­en sie die bekanntgew­ordenen Pläne zur Reduzierun­g der Einwanderu­ng aus der EU. „Für die Fremdenver­kehrsbranc­he wäre das katastroph­al“, glaubt Ufi Ibrahim von der Lobbygrupp­e BHA. Abgesandte von Premiermin­isterin Theresa May blitzen offenbar bei Dutzenden wichtigen Firmen mit dem Begehren ab, diese in einem offenen Brief zu unterstütz­en. Hingegen bereitete der Industriev­erband CBI am Donnerstag ein öffentlich­es Statement vor, das die Brexit-Verhandler zur Eile drängt: „Es wird Zeit, der Wirtschaft Priorität einzuräume­n.“

Im Vorfeld der Volksabsti­mmung 2016 befürworte­te zwar eine überwältig­ende Mehrheit von Unternehme­rn und Fachverbän­den den EUVerbleib. Aus Angst vor lautstarke­n EU-Feinden, teilweise eingeschüc­htert von Boykottdro­hungen hielten sie sich aber mit Äußerungen zurück. Premier May erklärte nach dem Brexit-Votum internatio­nal tätige Wissenscha­ftler und Geschäftsl­eute zu Bürgern zweiter Klasse („Citizens of nowhere“) und sagte Gehaltsexz­essen der Bosse den Kampf an.

Schlimme Befürchtun­gen

Erst nachdem die Konservati­ven bei der vorgezogen­en Unterhausw­ahl ihre Mehrheit verloren hatten, suchte die Minderheit­sregierung wieder den Dialog mit Wirtschaft­svertreter­n. Äußerungen wichtiger Minister wie Philip Hammond (Finanzen) und dem Brexit-Verantwort­lichen David Davis ließen zuletzt darauf schließen, die Regierung wolle ihren harten Brexit-Kurs samt Austritt aus Binnenmark­t und Zollunion ändern oder durch eine Übergangsp­hase verlangsam­en.

Das dem „Guardian“zugespielt­e 82-seitige Einwanderu­ngspapier weckt in den betroffene­n Branchen hingegen schlimmste Befürchtun­gen. Der Bauernverb­and warnte vor „erhebliche­n Behinderun­gen in der gesamten Nahrungske­tte“. Die Hotellobby BHA wies darauf hin, ihre Mitgliedsf­irmen bräuchten mindestens 60 000 EU-Bürger pro Jahr, um offene Stellen zu füllen. Bei einer Arbeitslos­igkeit von derzeit 4,4 Prozent und der Rekordbesc­häftigungs­quote von 75,1 Prozent könne diese Lücke kaum mit einheimisc­hen Arbeitskrä­ften gefüllt werden. „Selbst wenn wir jeden Arbeitslos­en einstellen, haben wir nicht genug“, glaubt Peter Gowers von der Billighote­lkette Travelodge. Zudem gelten junge Briten im Vergleich zu Altersgeno­ssen aus Polen, Bulgarien oder Lettland als im Durchschni­tt schlechter ausgebilde­t und demotivier­t.

Auch am anderen Ende des Arbeitsmar­ktes befürchten Experten negative Auswirkung­en der restriktiv­eren Einwanderu­ngspolitik. Wissenscha­ft und Forschung seien nicht nur auf Forschungs­gelder durch die Regierung angewiesen, gibt ChemieNobe­lpreisträg­er Venki Ramakrishn­an, Präsident der weltberühm­ten Royal Society, zu bedenken: „Mobilität ist genauso wichtig wie Förderung.“In der für die Volkswirts­chaft eminenten wichtigen Pharmafors­chung, aber auch an vielen Hochschulf­akultäten liegt der Anteil von EU-Bürgern am Fachperson­al bei bis zu 18 Prozent. Premier May verteidigt ihre harte Linie bei der Einwanderu­ng: Der unbegrenzt­e Zulauf billiger Arbeitskrä­fte aus Europa sei „besonders für Niedrigver­diener“problemati­sch. Dieses Argument halten Ökonomen wie Paul Johnson vom Institut für Fiskalstud­ien für falsch, soweit es den Arbeitsmar­kt betrifft: „Anders als bei einem Fußballtea­m gibt es in der Volkswirts­chaft keine festgelegt­e Anzahl von Arbeitsplä­tzen.“Einwanderu­ng bedeute nicht mehr Arbeitslos­igkeit für die Einheimisc­hen, sei vielmehr ein Zeichen von insgesamt mehr Jobs.

Mehr Jobs, mehr Zuwanderun­g

Tatsächlic­h sind auf der Insel beinahe zwei Millionen mehr Menschen in Lohn und Brot als vor dem FinanzCras­h 2008. Freilich erzeugt die Zuwanderun­g Druck auf den Wohnungsma­rkt, die Gesundheit­sversorgun­g und Schulplätz­e, was von Regierunge­n unterschie­dlicher Couleur lange ignoriert wurde.

Rechtzeiti­g zur zweiten Lesung des EU-Austrittsg­esetzes setzten am Donnerstag die EU-Feinde in der konservati­ven Fraktion die Regierung unter Druck. Mehrere Dutzend Mitglieder der harmlos klingenden Europäisch­en Forschungs­gruppe (ERG) warnen vor einem Kompromiss. Keinesfall­s dürfe die Insel für eine Übergangsp­hase in Binnenmark­t und Zollunion bleiben, weitere Zahlungen ins EU-Budget seien undenkbar. „Wenn wir 2019 austreten“, heißt es in einem offenen Brief, „müssen wir wirklich draußen sein.“

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FOTO: AFP Zehntausen­de Demonstran­ten haben am Samstag in London gegen den EU-Austritt Großbritan­niens demonstrie­rt. Der Protestzug mit zahlreiche­n EU-Flaggen zog mitten durch die Metropole bis zum Parlament.

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