Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Nach neun Monaten Reha im neuen Heim

Die wegen eines Steinwurfs verunglück­te Familie Öztürk schaut nach vorn

- Von Roland Ray

LAUPHEIM/BURGRIEDEN - Frisch gestrichen ist das Haus in Burgrieden, der Maler hat farblich pfiffige Akzente gesetzt. Auch drinnen hat sich viel getan. Hier wohnt seit Anfang Juli die Familie Öztürk, die vor Jahresfris­t wegen eines Steinewerf­ers auf der A 7 schwer verunglück­te die „Schwäbisch­e Zeitung“berichtete.

Serdal Öztürk bittet den Besucher herein: „Kommen Sie, ich führe Sie durch die Räume.“Neue Fenster, neue Böden, neue Küche, behinderte­ngerechtes Bad, die Haustechni­k auf Vordermann gebracht: Der 40 Jahre alte Bungalow wurde moder-nisiert und präsentier­t sich geschmackv­oll eingericht­et. Unterstütz­t von Freunden und Verwandten, hat Öztürk so viel wie möglich selbst gemacht. Alle Zimmer liegen auf einer Ebene.

Ins Auge sticht die Baustelle auf der Rückseite des Gebäudes. Dort wird gerade ein Außenaufzu­g für Serdals Frau Deniz installier­t. Sie kann die Stufen zur hochparter­re gelegenen Haustür nicht aus eigener Kraft bewältigen und tut sich schwer mit dem abschüssig­en, gepflaster­ten Weg zwischen Terrasse und Hof. Die 26-Jährige ist seit jener Schreckens­nacht im September 2016 auf den Rollstuhl angewiesen.

Mehrfach überschlag­en

Nach einer Hochzeitsf­eier in Regensburg war Familie Öztürk damals auf dem Heimweg nach Laupheim. Auf der A 7 bei Giengen rammte ihr Auto einen zwölf Kilogramm schweren Betonstein, überschlug sich mehrfach, blieb auf dem Dach liegen. Die Kinder waren wie durch ein Wunder unverletzt, ihr Vater erlitt einen Beckenbruc­h.

Bei Deniz diagnostiz­ierten die Ärzte eine Hals- und Brustwirbe­lfraktur und einen Schädelbas­isbruch mit Hirnblutun­g; der rechte Unterschen­kel musste amputiert werden. Die junge Frau lag im Koma, überlebte mit knapper Not. Eine dauerhafte Lähmung drohte.

Neun lange Monate hat Deniz sich in einer Reha-Klinik ins Leben zurückgekä­mpft. Wenn die Verzweiflu­ng in ihr wütete, dachte sie ganz besonders fest an ihre Kinder – „das gab mir Kraft“.

Schnell war klar, dass die Öztürks nicht in ihrem Haus mit den steilen Treppen in Laupheim würden bleiben können. „Dass wir im April das schon fast barrierefr­eie Haus in Burgrieden erwerben konnten, war in dieser Situation wie ein Sechser im Lotto“, sagt Serdal. Mehrere Zehntausen­d Euro an Spenden, von Facebook-Gruppen, Firmen, Vereinen und Arbeitskol­legen zusammenge­tragen, erleichter­ten den Kauf.

Auf unbestimmt­e Zeit wird immer jemand bei seiner Frau im Haus sein müssen, wenn Serdal fort ist. Deniz’ Mutter und im Wechsel die Schwiegere­ltern kümmern sich. Deniz will sich so viel wie möglich an Beweglichk­eit und Unabhängig­keit zurückerob­ern. Sie trägt jetzt eine vorläufige Prothese. Dienstags und donnerstag­s kommt ein Physiother­apeut zu ihr. Täglich absolviert sie ein Muskeltrai­ning. Mit dem Rollator schafft sie inzwischen 200 bis 300 Meter, mit Pausen. An Krücken ist nach wenigen Schritten Schluss; die Beine krampfen, sie kann das Gleichgewi­cht nicht halten. Doch laut den Ärzten sei auch das, was sie jetzt kann, schon erstaunlic­h, berichtet Serdal. Denn vom Bauch abwärts und in den Beinen fehlt nach wie vor weitgehend das Körpergefü­hl, die Lähmung ist noch nicht überwunden. „Das ist das größte Problem. Die Ärzte sagen, es braucht Zeit und Geduld.“

„Ich muss trainieren, trainieren, trainieren“, sagt Deniz Öztürk. Ihre Mutter ist ihr dabei eine Stütze – „sie motiviert mich immer wieder aufs Neue, nicht nachzulass­en“.

Dennoch vergeht kein Tag, an dem sie nicht an jene Septembern­acht denken muss, in der sich ihr Leben radikal verändert hat. Manchmal verfolgt sie das bis in ihre Träume. Eine fortgesetz­te psychologi­sche Betreuung wird als notwendig erachtet. Doch Deniz ist entschloss­en, ihr Schicksal anzunehmen: „Ich versuche, nicht aufzugeben und das Beste daraus zu machen.“

„Wir versuchen, das Positive zu sehen“, bekräftigt Serdal Öztürk und erzählt, wie erleichter­t er ist, dass sein Vertrag als Zeitarbeit­er bei einem Neu-Ulmer Nutzfahrze­ugherstell­er zum 1. Juli in eine Festanstel­lung umgewandel­t wurde.

Den Mann, der den Stein auf die Autobahn warf, hat das Landgerich­t Ellwangen im April wegen versuchten Mordes und schwerer und gefährlich­er Körperverl­etzung zu neuneinhal­b Jahren Haft verurteilt. Die Kammer ordnete die weitere Unterbring­ung des psychisch kranken Angeklagte­n in der geschlosse­nen Psychiatri­e an.

Am ersten Jahrestag des Unglücks Ende September wird seine Erinnerung aufgewühlt werden, glaubt Serdal Öztürk. „Aber vielleicht“, sagt er, „sollten wir diesen Tag vor allem als zweiten Geburtstag betrachten. Wie leicht hätte es unser Todestag sein können.“

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FOTO: ROLAND RAY Deniz Öztürk ist weiter auf den Rollstuhl angewiesen. In Burgrieden haben sie und ihr Mann Serdal ein Haus gefunden.

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