Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)
„Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat“
20-Jähriger hat gar keine Erinnerung an Beleidigungen gegen Polizeibeamte und „Sieg Heil, mein Führer“-Rufe
TETTNANG - Dass er nach „Rock im Vogelwald“in Laimnau gegenüber zwei Polizisten permanent „Sieg Heil, mein Führer“gerufen, die Beamten als „Wichser“und „Deppen“bezeichnet hat und kundgab, „alle Kanaken zu verhauen“, daran konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Dabei wollten die Beamten den 19-jährigen Angeklagten lediglich zu seinem eigenen Schutz in Gewahrsam nehmen. Er geriet im Juli 2016 nämlich betrunken mit einem an einer Asylbewerberunterkunft gestohlenen Fahrrad in eine Kontrolle.
Gestern musste sich der inzwischen 20-jährige Azubi vor Richter Martin Hussels-Eichhorn im Amtsgericht Tettnang verantworten, wo er so gar nicht den Eindruck eines pöbelnden und beleidigenden jungen Mannes abgab. Was damals anders gewesen sein muss.
Bereits zwischen 17 und 18 Uhr war der 19-Jährige ins Argental gekommen, um sich bei „Rock im Vogelwald“zu vergnügen. Das schien bis etwa Mitternacht auch gelungen zu sein. Später, betankt mit reichlich Alkohol, begab sich der junge Mann auf die Suche nach seinem Bruder, den er nicht fand. Stattdessen landete er uneingeladen in der Asylbewerberunterkunft in Laimnau, wo man in freundlich aber bestimmt hinauskomplimentierte. Vor dem Gebäude standen allerdings zwei unverschlossene Mountainbikes, von denen sich der Angeklagte nachweislich mindestens eines nahm und damit wegfuhr.
Pech für ihn: Der Angeklagte fiel gegen 1 Uhr vor einer Polizeikontrolle vom Fahrrad und auf die Straße. Da er stark alkoholisiert war, nahmen ihn die Beamten in Gewahrsam und brachten ihn ins Krankenhaus. Permanent und „wie von einer Schallplatte“, so ein Beamter gestern im Zeugenstand, beleidigte der Angeklagte fortan in aggressiver Art die Polizisten mit den bereits angeführten und weiteren Beschimpfungen.
Im Häfler Klinikum befand die ärztliche Untersuchung, dass der Eingelieferte „ohne Einschränkung gewahrsamsfähig“ist, worauf ihn die Beamten bis zum Morgen zur Ausnüchterung in die Arrestzelle verbrachten, ehe er vom Vater abgeholt wurde.
Dass der Angeklagte für den Diebstahl von mindestens einem von zwei gestohlenen Kinder-Mountainbikes verantwortlich war, belegte der bestohlene Vater der Kinder Tage später vor der Polizei in Immenstaad. Bewertet wurde vom Gericht gestern allerdings nur der Diebstahl eines Fahrrades, da der Verbleib des zweiten unklar geblieben ist. In ihrer Anklage war die Staatsanwaltschaft zunächst davon ausgegangen, dass der Angeklagte nach dem Diebstahl des ersten Rades zurückgekommen sei, um auch das zweite zu holen.
Der 20-Jährige hat nach seinem Realschul-Abschluss eine Lehre abgebrochen und eine neue Ausbildung als Kfz-Mechatroniker begonnen, die er demnächst abschließt. Zu Beleidigungen und dem Diebstahl meinte der Angeklagte: „Ich weiß auch nicht, was mich geritten hat.“
Die Staatsanwaltschaft plädierte auf eine Verurteilung nach dem Jugendstrafrecht und sah den Diebstahl eines Fahrrades „auf jeden Fall“und die Beleidigungen nachgewiesen. Der Strafantrag: Eine Geldstrafe von 6400 Euro und ein Beratungsgespräch in Sachen Alkoholkonsum.
Verteidiger Ingo Lenßen betonte die Einsichtsfähigkeit seines Mandanten, der wisse, dass sein Verhalten nicht in Ordnung gewesen sei und sich vor Gericht bei den Beamten entschuldigte. Sein Mandant habe das Fahrrad nicht stehlen wollen, so Lenßen, sondern es in seinem Zustand lediglich weggenommen und eingeräumt: „Ich hätte mich selbst auch angezeigt.“Lenßen bat, die von der Staatsanwaltschaft geforderte Geldstrafe nicht und stattdessen Sozialstunden zu verhängen. Dem kam das Gericht nach. Es sah im Rahmen des angewandten Jugendstrafrechts auf 40 Stunden gemeinnützige Arbeit und mindestens einem Beratungsgespräch bei der Caritas in Ravensburg vor. Staatsanwaltschaft und Verteidigung nahmen das Urteil noch im Gerichtssaal an.