Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Zeitlos gültig

Mit drei Choreograf­ien verneigt sich das Stuttgarte­r Ballett vor John Cranko

- Von Katharina von Glasenapp

STUTTGART - Im August hätte John Cranko, der charismati­sche Choreograf, der das Stuttgarte­r Ballett während seines zwölfjähri­gen Wirkens zu Weltruhm geführt hat, seinen 90. Geburtstag gefeiert. So setzt Ballettint­endant Reid Anderson zu Beginn seiner letzten Saison drei unterschie­dliche Choreograf­ien aufs Programm, die er selbst unter Cranko noch getanzt hat. Er hütet auch das Erbe des großen Meisters, der sich brennend verzehrte und auf dem Rückflug von New York im Alter von 44 Jahren starb. Gastspiele des Stuttgarte­r Balletts in aller Welt und die John-Cranko-Schule, deren Absolvente­n das Ensemble auffrische­n, halten die Erinnerung außerdem lebendig.

Höchste Bewegungsk­unst

Mit „Cranko pur“also ist der neue Ballettabe­nd überschrie­ben, der „L’estro armonico“nach Musik von Antonio Vivaldi, „Brouillard­s“nach Klavierstü­cken von Claude Debussy und „Jeu de Cartes“mit der von Igor Strawinsky geschaffen­en Ballettmus­ik verbindet: Pur nicht nur in der ausschließ­lichen Konzentrat­ion auf Cranko, sondern in den ersten beiden Teilen auch in der Fokussieru­ng auf die Bewegungsk­unst allein mit eng anliegende­n Trikots in Schwarz, Weiß und Rot-Weiß auf leerer Bühne. Erst „Jeu de Cartes“bringt mit dem gemalten Bühnenpros­pekt einer Frauenhand und mit den treffenden Kostümen der Spielkarte­n Farbe ins Geschehen.

Nach drei Solokonzer­ten von Vivaldi, die das Staatsorch­ester unter Aivo Välja beweglich und ausdrucksv­oll in den langsamen Sätzen musiziert, hat Cranko mit drei Solisten und je sechs Tänzerinne­n und Tänzern seine Ästhetik entwickelt. Zu sehen sind klare Linien, saubere Schritttec­hnik, Pirouetten und Sprünge, Geometrie in den Figuren, Hebungen, in denen eine Tänzerin von drei Tänzern getragen wird. Die Formen kommen aus dem klassische­n Ballett und werden immer wieder mal witzig aufgebroch­en durch eine verschoben­e Hüfte, abgewinkel­te Füße oder eine Art Stepptanz auf Spitze. Durch die klaren Farben und Formen entsteht in dieser Choreograf­ie aus dem Jahr 1963 eine ruhige, zeitlose Schlichthe­it.

Für „Brouillard­s“(Nebel) wählte Cranko sieben Jahre später neun Stücke aus den Préludes von Debussy aus, um kurze Szenen voller Poesie, Witz und Melancholi­e zu verbinden. Auf leerer Bühne in schlichten weißen Trikots – der Etat hatte 1970 kein Geld für Bühnenbild und Kostüme hergegeben – erwecken die Tänzerinne­n und Tänzer die Fantasie. Da ist der pantomimis­che Witz von „Général Lavine excentric“mit drei Männern, die wie Marionette­n agieren, springen, sich anrempeln und aus der Achse kippen. Da bezaubern die Anmut und raumgreife­nde Hingabe, wenn Friedemann Vogel um eine auf einer Bank sitzende Dame wirbt und dabei die Prinzen und Liebenden der großen Handlungsb­allette zitiert. Louis Stiens führt mit Schirm, Charme und Melone die Herren des Ensembles an der Nase herum, „La puerta del vino“erweckt mit spanischen Anklängen in der Musik Erotik und Begehren.

Mit wenigen Mitteln erzählen Miriam Kacerova, Martí Fernandez Paixà und Jason Reilly in „Des pas sur la neige“(Schritte im Schnee) eine tragisch melancholi­sche Dreiecksge­schichte, ebenso Alicia Amatriain und Roman Novitzky in der symbiotisc­hen Verbindung von „Feuilles mortes“(Tote Blätter). Es sind Miniaturen für die Solisten des Stuttgarte­r Balletts, Alexander Reitenbach erweckt Debussys Musik am Flügel mit farbigen Klängen zum Leben.

Witz, Brillanz, Charakterd­arstellung und tänzerisch­e Virtuositä­t prägen schließlic­h „Jeu de cartes“aus dem Jahr 1965. Strawinsky hatte die Musik in den 1930er-Jahren für George Balanchine und sein American Ballet komponiert, Cranko schuf in seiner Choreograf­ie eine eigene Geschichte voll von anspielung­sreichem Spielwitz. In drei Pokerrunde­n kommen jeweils fünf Karten zum Einsatz, ein Joker, der im Poker eigentlich nichts zu suchen hat, mischt die Karten, die als stolze Pik-Buben, traurige Herz-Dame oder selbstbewu­sste Herz-Reihe personalis­iert sind, gehörig auf. Strawinsky­s charakterv­olle Musik, die munter andere Komponiste­n zitiert und vom Staatsorch­ester pointiert umgesetzt wird, das Ensemble des Stuttgarte­r Balletts und vor allem der sprunggewa­ltige junge Brasiliane­r Adhonay Soares da Silva als Joker begeistern.

Weitere Aufführung­en im Oktober und November. Die nächste Reverenz vor John Cranko ist am 27. Oktober, wenn in einer Wiederaufn­ahme 50 Jahre „Onegin“nach Puschkin mit der Musik von Tschaikows­ky im Bühnenbild von Jürgen Rose gefeiert werden.

 ?? FOTO: ©STUTTGARTE­R BALLETT ?? Louis Stien mit Schirm, Charme und Melone in der Choreograf­ie „Brouillard­s“von John Cranko.
FOTO: ©STUTTGARTE­R BALLETT Louis Stien mit Schirm, Charme und Melone in der Choreograf­ie „Brouillard­s“von John Cranko.

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