Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Türkei gerät im Fall Yücel in Zugzwang

- Von Susanne Güsten, Istanbul

Acht Monate nach der Festnahme des deutsch-türkischen Journalist­en Deniz Yücel muss sich Ankara binnen der nächsten Tage vor dem Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte äußern. Wie Yücels Verteidige­r Veysel Ok der türkischen Zeitung „Evrensel“sagte, läuft am 24. Oktober die Frist ab, die das europäisch­e Gericht der türkischen Regierung für ihre Stellungna­hme gesetzt hat. Ankara gerät in Zugzwang.

Die türkische Regierung muss sich demnach sowohl zur Verhaftung des Journalist­en äußern als auch zu der Frage, ob Yücel ein politische­r Häftling sei oder nicht. „Wir erwarten, dass das (Straßburge­r) Gericht im Fall Yücel ein Grundsatzu­rteil über den Journalism­us in der Türkei fällt“, sagte Ok. „Wir denken, dass das auf einem guten Weg ist.“

Wann mit einer Anklage der türkischen Staatsanwa­ltschaft gegen Yücel zu rechnen sei, wisse die Verteidigu­ng immer noch nicht, sagte Ok. Zu ermitteln gebe es schon lange nichts mehr: Weil die Vorwürfe sich auf Yücels journalist­ische Arbeit gründen, lägen alle vermeintli­chen Beweise ohnehin längst vor. Die einzige Erklärung für das Ausbleiben der Anklage sei, dass Yücel mit der langen Untersuchu­ngshaft bestraft werden solle, bevor er vor Gericht komme, sagt der Anwalt. „Es ist eine Strafmaßna­hme, jemanden im Gefängnis zu halten, ohne eine Anklage vorzulegen.“

Von Yücel selbst gibt es eine Mitteilung, die kürzlich auf seinem Twitter-Account veröffentl­icht wurde. „Pssst, beste Rechtsstaa­t wo gibt: 242 Tage! Dass das eine Geiselnahm­e ist, habt ihr bewiesen. Jetzt her mit der Anklagesch­rift!“, lautete der Text der Botschaft. Yücels Ehefrau bestätigte, dass die Botschaft von ihrem Mann stammt.

Anders als bei Yücel liegt gegen den im Juli verhaftete­n deutschen Menschenre­chtler Peter Steudtner eine Anklagesch­rift vor, was in Verfahrens­kreisen als positives Zeichen bewertet wird. Gegen Mesale Tolu aus Ulm begann fünf Monate nach ihrer Festnahme der Prozess. Dass die Anklage des schon länger inhaftiert­en Yücel noch immer auf sich warten lässt, bewertet sein Anwalt auch als Anzeichen dafür, wie inhaltslee­r die Anklagesch­rift ausfallen dürfte.

Vorwurf der Spionage

Yücel war wegen Propaganda für eine Terrororga­nisation und Volksverhe­tzung verhaftet worden. Von der regierungs­nahen Presse wurde seither auch der Vorwurf der Spionage propagiert. „Das hat zwar keinerlei juristisch­e Bedeutung, gibt aber eine Ahnung davon, was da für eine Anklage zu erwarten ist“, sagt der Anwalt.

Ok gehört zu den wenigen Menschen, die Yücel in der Haft sehen dürfen. Außer mit Rechtsanwä­lten darf der Journalist im Gefängnis nur einmal in der Woche mit Angehörige­n sprechen. „Deniz Yücel ist meines Wissens der einzige Journalist in Istanbul, der in Isolations­haft gehalten wird, und das seit acht Monaten“, sagt Ok. „Er versucht, stark zu bleiben, aber natürlich wirkt sich die Isolations­haft auf Dauer auf die psychische und körperlich­e Gesundheit eines Menschen aus.“Die Verteidigu­ng versuche alles, um gegen die Einzelhaft vorzugehen. „Aber Deniz ist immer noch ein starker Journalist, der auf seine Arbeit stolz ist.“

Nach Angaben des türkischen Pressefrei­heitsverei­ns P24 sitzen derzeit 169 Journalist­en in der Türkei hinter Gittern. Am Montag beschloss der Nationale Sicherheit­srat der Türkei, eine Verlängeru­ng des Ausnahmezu­stands im Land über den kommenden Donnerstag zu empfehlen. Während eines Ausnahmezu­standes sind die Grundrecht­e eingeschrä­nkt.

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