Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Gegen die Wand

Die Brexit-Sorgen der britischen Wirtschaft verhallen bei den Mächtigen in London

- Von Andreas Knoch

LONDON/EDINBURGH - Mit einem eindringli­chen Appell hat sich am vergangene­n Donnerstag Carolyn Fairbairn an die Öffentlich­keit gewandt: „Ein Stillstand der Brexit-Gespräche in einer so wichtigen Phase ist für die Unternehme­n in Großbritan­nien und dem Rest Europas zutiefst besorgnise­rregend.“Spätestens bis Jahresende müsse die finale Phase der Gespräche über die künftigen Beziehunge­n Großbritan­niens zur EU eingeleite­t werden, sagte die Chefin der einflussre­ichen Confederat­ion of British Industry (CBI), die die Interessen von rund 190 000 Unternehme­n der gewerblich­en Wirtschaft auf der Insel vertritt.

Kein Fahrplan

Die Zeit drängt: Denn 15 Monate nachdem sich die Briten für einen EU-Austritt entschiede­n haben und sechs Monate nachdem Premiermin­isterin Theresa May die Scheidungs­unterlagen nach Artikel 50 des EU-Vertrags eingereich­t hat, gibt es noch immer keinen Fahrplan. Harter Brexit (Austritt aus EU, Binnenmark­t und Zollunion), weicher Brexit (Austritt aus EU, Zugang zu Binnenmark­t und Zollunion), Übergangsp­hase – jedes Szenario ist denkbar.

Das ist Gift für die Wirtschaft, die nichts so sehr hasst wie Unsicherhe­it. Während Unternehme­nsvertrete­r und Wirtschaft­sverbände in Deutschlan­d seit Monaten lautstark auf die Gefahren eines (harten) Brexits hinweisen, war die britische Wirtschaft lange Zeit ruhig. Die Vorstellun­g, dass Großbritan­nien, traditione­ll ein Hort des Freihandel­s, diese Prinzipien über Bord werfen würde, hatte in den Chefetagen britischer Firmen keine Anhänger. Die relative Sorglosigk­eit bekam erste Risse, als Theresa May zu Beginn dieses Jahres ankündigte, dass kein Deal mit Brüssel besser sei als ein schlechter Deal.

Inzwischen schlagen Wirtschaft­svertreter auf der Insel Alarm. Bis zum Jahresende müsse endlich ein Plan her, heißt es, sonst werde die Umsetzungs­zeit bis März 2019 zu knapp. Dann nämlich wäre im schlimmste­n Fall Schluss mit der Arbeitnehm­erfreizügi­gkeit, die noch garantiert, dass jeder Unionsbürg­er unter den gleichen Voraussetz­ungen auf der Insel arbeiten kann wie ein Brite. Doch ohne den unbürokrat­ischen Zuzug von Arbeitskrä­ften stünde die britische Wirtschaft vor dem Kollaps. „Das Potenzial auf der Insel ist schlicht nicht vorhanden. Die Unternehme­n müssen Fachkräfte importiere­n, sind auf Zuwanderun­g angewiesen“, sagt Ulrich Hoppe, Hauptgesch­äftsführer der Deutsch-Britischen Industrie- und Handelskam­mer in London. Und dann wäre womöglich auch Schluss mit dem freien Zugang zum EU-Binnenmark­t, der es ermöglicht, Waren und Dienstleis­tungen ohne Zollschran­ken auszutausc­hen.

Allein: Die Rufe der britischen Wirtschaft werden in Westminste­r und Downing Street, den beiden Schaltzent­ralen im politische­n London, kaum vernommen. „Die wirtschaft­lichen Auswirkung­en des Brexits sind den Briten egal. Es ist von Anfang an ein politische­s Spiel“, heißt es aus diplomatis­chen Kreisen in London hinter vorgehalte­ner

Hand. Die Wirtschaft, sagen die „Brexiteers“, werde mit den Auswirkung­en schon zurechtkom­men. Und überhaupt habe sich von den ökonomisch­en Horrorszen­arien bislang nichts bewahrheit­et. Die Konjunktur läuft – wenn auch mit gebremstem Schwung – und der Schwächean­fall des britischen Pfundes hat dem Exportsekt­or sogar Auftrieb gegeben.

Ausweichbe­wegungen

Doch dieser kurzfristi­gen Argumentat­ion können inzwischen immer weniger Unternehme­r auf der Insel etwas abgewinnen – zumal sich erste Konsequenz­en der britischen Planlosigk­eit zeigen. Beispiel eins: die Industrie. Die hat zwar längst nicht den Stellenwer­t wie etwa in Deutschlan­d. Doch ist Großbritan­nien gerade in der Automobili­ndustrie ein wichtiger Standort, eingebunde­n in die weltweiten Lieferkett­en. „In diesen Lieferkett­en wird mit Gewinnmarg­en von drei bis vier Prozent gearbeitet“, sagt Frank Neumann von der deutschen Botschaft in London. „Käme es zu Einfuhrzöl­len im Handel mit der EU, die bei Fahrzeugte­ilen und -komponente­n bei durchschni­ttlich drei Prozent liegen, wäre die Profitabil­ität dahin.“

Schon jetzt reagiert die kontinenta­leuropäisc­he Wirtschaft klammheiml­ich auf diese Möglichkei­t – auch wenn es noch gar keine Zölle, noch keine Handelsbes­chränkunge­n und noch keine Bürokratie an der Grenze gibt. Spediteure berichten von einbrechen­den Frachtrate­n im Geschäft mit Großbritan­nien, denn etliche Firmen suchen sich bereits neue Abnehmer und Zulieferer – etwa in Osteuropa. Die Wirtschaft nimmt den Brexit quasi vorweg.

Beispiel zwei: Banken und Versicheru­ngen. London gilt als weltweit wichtigste­r Finanzplat­z. Der mächtige Finanzsekt­or könnte im Fall eines harten Brexits an Strahlkraf­t verlieren. Dann nämlich würde für Banken und Finanzdien­stleister der sogenannte EU-Pass wegfallen, mit dem die Institute London als Eingangsto­r für Geschäfte in der ganzen EU nutzen können. Großbritan­nien würde aus Sicht der EU zu einem Drittland, Geschäfte wären nicht mehr ohne Weiteres möglich. Die Liste der Banken, die vorsorglic­h Personal aus London abziehen und an kontinenta­leuropäisc­hen Finanzplät­zen wie Frankfurt und Paris aufbauen, wird täglich länger. Schätzunge­n zufolge sind zehn Prozent der rund 700 000 Bankarbeit­splätze in London in Gefahr.

Britischer Pragmatism­us

„Würden der EU-Pass und der aktuelle Status als Niederlass­ung wegfallen, wir also eine Vollbankli­zenz beantragen müssen, stünde unser Geschäftsm­odell unter Umständen infrage“, sagt Matthias Heuser von der LBBW in London. Dann nämlich müsste die LBBW das Geschäft in London mit deutlich mehr Eigenkapit­al unterlegen als bislang. Das Institut begleitet von der britischen Metropole aus deutsche Unternehme­n auf der Insel, ist aber auch im Immobilien­geschäft tätig und entwickelt Finanzprod­ukte für Privatanle­ger und institutio­nelle Investoren. Heuser hofft auf pragmatisc­he Lösungen der britischen Politik.

Auf diesen Pragmatism­us setzt auch Johannes Haas, Generalman­ager der DZ Bank, dem Spitzenins­titut der deutschen Volks- und Raiffeisen­banken, in London. Der Banker beobachtet zwar, dass deutsche Mittelstän­dler im Vorgriff auf den Brexit verstärkt Niederlass­ungen in Großbritan­nien gründen, um im Falle eines Falles weiter Geschäfte auf der Insel machen zu können. Auch würden Großuntern­ehmen ihre Investitio­nspläne auf Eis legen. „Doch echte Absetzbewe­gungen aus Großbritan­nien gibt es keine. Dazu ist der Markt zu groß und zu interessan­t“, sagt Haas, der eher an einen harten als an einen weichen Brexit glaubt.

„Die wirtschaft­lichen Auswirkung­en des Brexits sind den Briten egal.“Diplomatis­che Kreise in London

Kein zweites Referendum

Mögen in Deutschlan­d noch immer viele hoffen, dass sich die Briten den EU-Austritt noch einmal überlegen und erneut darüber abstimmen. Im Königreich glaubt daran keiner mehr: „Die Parteien werden den Wählerwill­en umsetzen“, ist sich Hoppe von der Deutsch-Britischen Industrieu­nd Handelskam­mer sicher. Das sieht auch Francis Grove-White so, Chef von Open Britain, einer Organisati­on, die für Europa und einen weichen Brexit kämpft. „Ein zweites Referendum wird es nicht geben.“

Unternehme­n und Bürger werden sich – in welcher Form auch immer – mit einem Brexit also arrangiere­n müssen. Das ist vielleicht auch das kleinere Problem. Langfristi­g viel schwerer dürfte die damit verbundene Verschiebu­ng der geopolitis­chen Kräfteverh­ältnisse wirken. Europa und die EU, vor allem aber Großbritan­nien, die sich beide rechtsstaa­tlichen Prinzipien und fairem Wettbewerb verschrieb­en haben, werden im globalen Miteinande­r der Mächte geschwächt. Auch innerhalb Europas wird es Verschiebu­ngen geben: Traditione­ll stehen die Briten für Freihandel und Marktwirts­chaft. In der EU war das Königreich zusammen mit Deutschlan­d und den Niederland­en ein Korrektiv zu den zum Staatsinte­rventionis­mus neigenden Südländern. Dieses Korrektiv fällt künftig schwächer aus.

 ?? FOTO: IMAGO ?? Nummer 10 Downing Street in London, die offizielle Residenz von Premiermin­isterin Theresa May: „Stillstand bei den Brexit-Gesprächen.“
FOTO: IMAGO Nummer 10 Downing Street in London, die offizielle Residenz von Premiermin­isterin Theresa May: „Stillstand bei den Brexit-Gesprächen.“
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany