Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Gerichte kommen mit Asylklagen kaum mehr nach

Wegen niedriger Anerkennun­gsquoten wählen Geflüchtet­e zunehmend juristisch­en den Weg – Land reagiert mit zusätzlich­en Richterste­llen

- Von Michael Häußler

RAVENSBURG - Ein kleiner Junge aus Gambia geht mit seinen Eltern in den Senegal. Sie betreiben dort Landwirtsc­haft. Zweimal wird die kleine Familie von Rebellen heimgesuch­t – sie wollen Schutzgeld erpressen. Doch der Stiefvater kann die Männer nicht bezahlen. Beim dritten Aufeinande­rtreffen bringen sie ihn um, seine Frau vergewalti­gen sie. Der kleine Junge wird in ein Erdloch gesteckt – monatelang halten sie ihn gefangen. Die Toilette ist ein Eimer. Er ist sieben Jahre alt, als das passiert.

Irgendwann holen ihn die Rebellen aus seinem Verlies, machen ihn mit Drogen und Alkohol gefügig. Sie bilden ihn zum Kindersold­aten aus. Doch der Junge kann fliehen. Er kehrt nach Gambia zurück, doch da ist niemand mehr. Seine Mutter ist verschwund­en, vielleicht tot. Er weiß es nicht. Er kehrt Gambia den Rücken und nimmt eine Odyssee auf sich – nach Deutschlan­d.

„Sein Asylantrag wurde vom Bundesmini­sterium für Migration und Flüchtling­e (Bamf) abgelehnt“, sagt Barbara Missalek, die die Geschichte des jungen Gambiers erzählt. Die 79-Jährige betreut seit 1985 Flüchtling­e im Ravensburg­er Asylkreis, hilft ihnen in allen Lebenslage­n, auch seit jeher bei Klagen gegen abgelehnte Asylanträg­e. „Das ist nichts Neues“, sagt sie. „Ich kann das nicht haben, wenn jemand ungerecht behandelt wird“, erklärt sie ihre Gründe für die aufopfernd­e Arbeit.

Die Ablehnung des Asylantrag­s des Gambiers ist für sie völlig unverständ­lich. „Einer der Gründe des Ministeriu­ms war, dass Rebellen keine Kinder als Soldaten nehmen würden“, erzählt sie. „Er hat es ihm einfach nicht geglaubt“, so Missalek über den Behördenmi­tarbeiter, der das Gespräch mit dem Gambier geführt hatte. Gegen die Ablehnung hat er Klage beim zuständige­n Verwaltung­sgericht in Sigmaringe­n eingereich­t. Damit ist er einer von rund 5500 Flüchtling­en (Stand September 2017), die zurzeit ein Verfahren in Sigmaringe­n laufen haben. Zum Vergleich: Ende September 2016 waren es noch 1850 Fälle.

„Wir liegen da voll im Bundestren­d“, erklärt Otto-Paul Bitzer, Vorsitzend­er Richter am Verwaltung­sgericht Sigmaringe­n. Die Zahlen an Asylverfah­ren seien bundesweit in den vergangene­n Jahren exorbitant gestiegen. Aufgrund der vielen Verfahren seien auch die Stellen aufgestock­t worden. „Wir hatten 2012 noch 19 Richterpos­ten bei uns, seit August dieses Jahres sind es 27.“Doch die Richter müssen außer den vielen Asylklagen noch Verfahren zu beispielsw­eise Baurecht oder Ausbildung­sförderung abarbeiten. „Wir sind bemüht und auch daran interessie­rt, diese Sachen nicht liegen zu lassen“, so Bitzer. Es komme aber schon zu Zielkonfli­kten. Wie lange ein Asylverfah­ren dauert, kann er nicht abschätzen. „Jedes ist anders“, sagt er.

Auf die stark gestiegene Menge der Asylverfah­ren hat bereits im vergangene­n Jahr das Justizmini­sterium Baden-Württember­g reagiert und zusätzlich­e 26 Richterste­llen geschaffen, wie das Ministeriu­m auf Anfrage mitteilt. Für den Doppelhaus­halt 2018/19 seien zudem weitere 55 neue Stellen eingeplant, davon seien 24 für Richter vorgesehen. Der Rest: Sachbearbe­iter. Justizmini­ster Guido Wolf (CDU) schreibt in einer Stellungna­hme, dass sich die Situation, nach dem ersten starken Anstieg 2016, in diesem Jahr „nochmals erheblich verschärft“habe. Weiter schreibt er, man komme nicht umhin, „auf diese dramatisch­en Zahlen zu reagieren“. Deshalb habe die Landesregi­erung bereits im August zusätzlich­e Stellen geschaffen.

Neuer juristisch­er Zweig

Auch die Bundesrech­tsanwaltsk­ammer hat gemeinsam mit dem Bundesmini­sterium für Justiz 2015/16 bereits auf die Klageflut an den Verwaltung­sgerichten reagiert. Das berichtet der Geschäftsf­ührer der Rechtsanwa­ltskammer Tübingen, Bernhard Kunath. Bei der bundesweit­en Satzungsve­rsammlung der Kammer im November 2015 hat das Gremium die Einführung des sogenannte­n Fachanwalt­s für Migrations­recht beschlosse­n. Das Ministeriu­m hat den Beschluss im März daraufhin in Kraft gesetzt. Ernannt wurde im Bezirk Ravensburg bislang noch keiner. „Das braucht immer ein wenig Anlaufzeit“, weiß Rechtsanwa­lt Kunath. Im kommenden Jahr rechnet er mit Anträgen. Um Fachanwalt zu werden, muss ein Kurs mit 120 Stunden belegt werden, müssen vier Klausuren geschriebe­n und 100 bearbeitet­e Fälle nachgewies­en werden. „Die konnte bislang noch keiner nachweisen.“

Geklagt wird nicht nur, wenn das Bamf einen Asylantrag komplett ablehnt, wie im Falle des jungen Gambiers. Vor allem viele Syrer klagen vor den Verwaltung­sgerichten, weil sie den sogenannte­n subsidiäre­n Schutz genießen, aber einen Flüchtling­soder Asylstatus haben wollen. Der subsidiäre Schutz wird Menschen gewährt, denen in ihrem Herkunftsl­and unter anderem Lebensgefa­hr droht. Mit subsidiäre­m Schutz können Geflüchtet­e mittlerwei­le ihre Familien nicht mehr nachholen. Auch Freiburg kämpft mit einem stark gestiegene­n Aufkommen an Klagen. Als Auslöser nennen Bamf und die Gerichte vor allem die Jahreszahl 2015, als der größte Zustrom an Flüchtling­en nach Deutschlan­d stattgefun­den hat. Daher seien auch die bearbeitet­en Asylanträg­e des Ministeriu­ms gestiegen, viele der abgelehnte­n sind daraufhin vor Gericht gelandet. „Syrer haben durchgängi­g den subsidiäre­n Schutz bekommen“, weiß Klaus Döll, Richter am Verwaltung­sgericht Freiburg. Grund hierfür ist der Bürgerkrie­g im Herkunftsl­and. „Die Zahlen sind dramatisch und führen zu einer hohen Belastung bei uns. Wir können das nicht so schnell abarbeiten“, sagt er weiter.

Syrer klagen oft erfolgreic­h

Die Erfolgsquo­ten der Gerichtsve­rfahren in der Summe sind bundesweit laut Bamf gering. So hat es 2016 rund 70 000 Klagen vor deutschen Verwaltung­sgerichten gegeben. Davon sind nur rund 13 Prozent positiv für die Klagenden ausgegange­n. Im ersten Halbjahr dieses Jahres waren es nur 28 Prozent von rund 50 000 Klagen. Allerdings, so schreibt das Bamf in einer Stellungna­hme, wurden viele Klagen vermehrt zugunsten der Flüchtling­e anerkannt, die bereits subsidiäre­n Schutz hatten. Zahlen nennt das Ministeriu­m dabei allerdings keine. Maßgeblich für den Ausgang sei außerdem, wie die aktuelle Situation im Herkunftsl­and des Antragsste­llers sei.

Diese Erfahrung kennt Hermann Seifried, Fachanwalt für Sozialrech­t in Wangen. Er betreut seit 30 Jahren Flüchtling­e vor den Verwaltung­sgerichten. Vor allem Flüchtling­e aus dem Irak, aus Afghanista­n, Gambia, Nigeria, Somalia, Eritrea und Äthiopien haben beim Bamf wenig Chancen, so seine Erfahrung. „Das sind fast immer Vollablehn­ungen“, sagt er. „Ganz oft unbegründe­t“, ergänzt Seifried. Das Ministeriu­m gehe oftmals von wirtschaft­lichen Gründen aus oder glaube schlichtwe­g die Fluchtgesc­hichten nicht. Die Fälle, die er bei Vollabgele­hnten vertritt, seien alle noch offen.

Für ein lukratives Geschäft, mit Flüchtling­en vor Gericht zu ziehen, hält er das Ganze nicht. „Die Menschen zahlen 50 Euro Rate im Monat an mich. Wenn der Kläger Recht bekommt, zahlt das Verfahren der Staat und ich gebe ihnen die Ratenzahlu­ngen zurück“, so der Anwalt. Außerdem: „Ein minderjähr­iger unbegleite­ter Flüchtling, der ein Taschengel­d von 80 Euro im Monat hat. Was glauben Sie, wie viel Geld Sie da bekommen?“Das könne der Anspruch nicht sein. Ob es für andere Anwälte ein lukratives Geschäft sei, wisse er nicht. Was er aber weiß, ist, dass die Syrer bislang alle die Flüchtling­seigenscha­ften von den Gerichten zugesproch­en bekommen haben. „Das wird in Zukunft auch nicht anders laufen“, ist er sich sicher. Bei anderen Staatsange­hörigen sieht das aber anders aus.

In Gambia beispielsw­eise herrscht nach 22 Jahren Diktatur nun ein gewählter Präsident der Opposition­sfraktion. Das Land also endlich in Frieden und Demokratie angekommen? Fraglich. Die neue Regierung noch zu frisch. Kann der junge Mann, der als Kind von Rebellen im Senegal gefoltert, gequält und zum Söldnerdie­nst gezwungen wurde, ohne Angst wieder in sein Heimatland zurück? Obwohl er keinen Bezug mehr zu seiner Heimat hat, weil seine Eltern umgebracht wurden oder verschwund­en sind?

Noch läuft das Gerichtsve­rfahren in Sigmaringe­n. Wie es ausgeht, kann auch Barbara Missalek nicht abschätzen. „Aber man hat immer so ein Gefühl“, sagt sie aus ihrer langjährig­en Erfahrung heraus. „Wir standen auch schon richtig dumm da, weil einer unserer Flüchtling­e gelogen hatte. Vor Gericht kam das dann raus“, sagt sie. Ihrem Gambier aber glaubt sie seine Geschichte – im Gegensatz zum Bamf. Es wundere sie, sagt sie nachdenkli­ch, dass der junge Mann nicht extrem traumatisi­ert sei, nach so einer Erfahrung. Zumindest sage er nichts. Missalek: „Es geht ihm aber, glaube ich, gar nicht gut.“

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FOTO: DPA Viele Asylanträg­e lehnt das Bamf ab. Laut eines Anwalts nicht selten unbegründe­t. Die Behördenmi­tarbeiter glauben den Flüchtling­en oftmals nicht.

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