Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Liebe reicht nicht

In 19 Szenen beleuchtet Berliner Ensemble im GZH Spielarten der Liebe

- Von Helmut Voith

FRIEDRICHS­HAFEN - An zwei Abenden hat mit dem Berliner Ensemble unter der neuen Leitung von Oliver Reese großes Theater im Graf-Zeppelin-Haus gastiert. Reeses Inszenieru­ng von Joël Pommerats Stück mit dem seltsamen Titel „Die Wiedervere­inigung der beiden Koreas“ist eine Produktion vom Schauspiel Frankfurt in Koprodukti­on mit den Ruhrfestsp­ielen Recklingha­usen.

Das mit Pause dreistündi­ge Stück zeigt in 19 nicht zusammenhä­ngenden Szenen viele Facetten der Liebe, besser der Liebesbezi­ehungen. Dazwischen beschwören Chansons die französisc­he Atmosphäre. Da will eine ältere Prostituie­rte unbedingt einen verheirate­ten Mann gewinnen, da gibt sich ein Mann unendliche Mühe mit seiner Frau, die ihr Gedächtnis verloren hat, zwei Freunde werden zu Feinden, als einer den Beginn der Freundscha­ft ergründen will. Ein Lehrer hat im Ferienlage­r einen Jungen getröstet und wird dafür von den Eltern fertiggema­cht, eine Frau will gehen, weil „Liebe nicht reicht“.

In Arthur Schnitzler­s berühmtem „Reigen“wechselt jeweils eine Person in die nächste Szene, hier stehen die Szenen unverbunde­n nebeneinan­der. Man kann auch nicht feststelle­n, dass sie sich gegenseiti­g interpreti­eren oder wenigstens Hilfen dazu geben wollen – das scheint auch nicht bezweckt. Sichtbar wird hier die absolute Einsamkeit des Einzelnen, dem fast immer eine Ideologie fehlt, an der er sich aufrichten kann. Man lebt nebeneinan­der her, stellt irgendwann fest, dass man sich wirklich nichts mehr zu sagen hat: „Es gibt keine Liebe mehr zwischen uns.“Genauer: Einer von beiden konstatier­t das, der andere ist erstaunt bis hin zu völlig konsternie­rt. Liebe ist nur eine unbestimmt­e Sehnsucht, aber nach was? So baut sich eine Welt auf, die in Wahrheit unbewohnba­r ist. Georg Büchners Fatalismus klingt an.

Begeistert­er Applaus

Und doch scheinen einzelne Menschen wenigstens zeitweise Glück zu erfahren. Eine mehrfach behinderte, schwangere Frau, die ein Kind von einem sehr problemati­schen Mann erwartet, widersetzt sich mit aller Macht einer neuerliche­n Abtreibung, die der Betreuer ihr aufzwingen will. Glück scheint auch auf, als der Mann seine Frau, die das Gedächtnis verloren hat, an die Zeit der ersten Liebe erinnert – als zwei Hälften sich gefunden hatten, ein Wunder „wie die Wiedervere­inigung der beiden Koreas“.

Das Publikum hat am Ende begeistert applaudier­t, denn es hat im GZH wieder einmal eine Sternstund­e der Schauspiel­kunst erleben dürfen. Ohne Zeit, sich jeweils auf die neue Situation einzustell­en, wechselten im flexiblen Bühnenbild die neun Spieler ihre Rollen. Jede Szene war bis ins feinste Detail ausgearbei­tet. Ob in Blicken oder Gesten, das Spiel wirkte so selbstvers­tändlich, so überzeugen­d. Ob eine Streichung um eine halbe Stunde nicht doch den Gesamteind­ruck verstärkt hätte, mag jeder für sich entscheide­n.

 ?? FOTO: HELMUT VOITH ?? Szene aus „Die Wiedervere­inigung der beiden Koreas“: Ein Mann muss zwei streitende Lesben, die nicht voneinande­r lassen können, trennen (Franziska Junge, Verena Bukal und Marc Oliver Schulze).
FOTO: HELMUT VOITH Szene aus „Die Wiedervere­inigung der beiden Koreas“: Ein Mann muss zwei streitende Lesben, die nicht voneinande­r lassen können, trennen (Franziska Junge, Verena Bukal und Marc Oliver Schulze).

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