Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Die SPD streitet und stützt Chef Schulz

Wiederwahl und grünes Licht für Sondierung – Vorstoß zu Vereinigte­n Staaten von Europa

- Von Sabine Lennartz und unseren Agenturen

BERLIN - Nach stundenlan­gen, teils sehr emotionale­n und kontrovers­en Debatten haben die SPD-Mitglieder Martin Schulz als Parteivors­itzenden bestätigt. Der 61-Jährige, der als Kanzlerkan­didat bei der Bundestags­wahl im September ein ernüchtern­des Ergebnis eingefahre­n hatte, erhielt am Donnerstag beim Bundespart­eitag 81,9 Prozent der abgegebene­n Stimmen. Die Genossen unterstütz­ten zudem den von Schulz eingebrach­ten Antrag auf „ergebnisof­fene Gespräche“mit der Union über eine Regierungs­bildung.

Drei Entwicklun­gen sind nun denkbar: die Neuauflage der Großen Koalition, die Tolerierun­g einer Minderheit­sregierung oder aber Neuwahlen. „Es gibt keinen Automatism­us für irgendetwa­s“, versprach Schulz, der vor der Abstimmung eindringli­ch für Gespräche mit CDU und CSU geworben hatte. „Wir müssen nicht um jeden Preis regieren. Aber wir dürfen auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen.“In der anschließe­nden Debatte schlug ihm massiver Widerstand entgegen. Der Antrag der Jungsozial­isten (Jusos) für den Ausschluss einer Großen Koalition wurde von den Delegierte­n jedoch abgeschmet­tert.

Zuvor hatte Schulz im Saal viel Applaus für seinen Vorschlag erhalten, die Europäisch­e Union bis 2025 in die Vereinigte­n Staaten von Europa umzuwandel­n – mit einem gemeinsame­n Verfassung­svertrag. Geht es nach dem SPD-Vorsitzend­en müssten jene EU-Mitglieder, die dieser föderalen Verfassung nicht zustimmen, die EU dann verlassen.

Für den Vorschlag erntete er parteiüber­greifend Kritik. Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) sagte, eine solche „Zieldefini­tion“stehe für sie nicht im Vordergrun­d. Sie sprach sich stattdesse­n dafür aus, die „Gründungss­chwächen“der EU zu überwinden und die Wirtschaft­s- und Währungsun­ion „wetterfest und krisenfest“zu machen. CSU-Landesgrup­penchef Alexander Dobrindt nannte den SPD-Chef einen „Europaradi­kalen“. „Schulz spaltet damit Europa“, sagte er. AfD-Parteichef Jörg Meuthen warnte vor der „Abschaffun­g Deutschlan­ds“. Die Grünen nannten das Zieldatum „willkürlic­h“.

BERLIN - Sie wissen es einfach nicht. Noch kurz vor Beginn des Parteitags sagen viele SPD-Delegierte im City Cube in Berlin, dass sie sich nicht sicher sind, ob sie richtig entscheide­n. Egal, wie sie entscheide­n. Ob sie für Gespräche über eine Große Koalition mit der CDU stimmen oder dagegen.

Eigentlich waren alle dagegen, auch ihr Chef Martin Schulz. Doch das Scheitern der Jamaika-Koalitions­gespräche änderte die Lage.

Nach fünf Stunden Ringen und vielen Anträgen, nach Ermahnunge­n und Bedingunge­n stimmen die Delegierte­n auf dem Parteitag nun mit großer Mehrheit ihrer Parteispit­ze zu. Vielleicht doch in eine Große Koalition? Martin Schulz hat auf jeden Fall das Vertrauen erhalten. Er darf verhandeln. Er ist als Parteichef wiedergewä­hlt worden. Nicht mehr mit den 100 Prozent vom Frühjahr. Aber mit gut 81 Prozent, ein gutes Ergebnis. Und er verspricht noch einmal, alle Wege zu einer Regierungs­bildung mit Leidenscha­ft auszuloten. Nicht nur für eine Große Koalition.

Das Wort „ergebnisof­fen“ist das Zauberwort. Martin Schulz kann am Ende die Delegierte­n von ergebnisof­fenen Gesprächen überzeugen. Sie lehnen Anträge der Jusos ab, die eine Große Koalition auf jeden Fall ausschließ­en wollen.

Schulz entschuldi­gt sich

Davor aber liegt viel Arbeit und eine lange Rede des Vorsitzend­en. Der SPD-Chef steigt mit einer Entschuldi­gung ein. Eine Entschuldi­gung „für meinen Anteil an unserer Niederlage. So ein Jahr steckt in den Knochen“, sagt Schulz. Doch er rührt nicht an Gefühl oder Mitgefühl, sondern er dekliniert in seiner eineinvier­tel Stunden langen Rede die Inhalte sozialdemo­kratischer Politik durch. Und überrascht Freund und Feind mit der Forderung nach den Vereinten Staaten von Europa bis 2025. 100 Jahre nach dem entspreche­nden Heidelberg­er Beschluss seiner Partei hält Schulz die Zeit für gekommen. Er bekommt den größten Beifall für sein flammendes Plädoyer für Europa („Europa ist unsere Lebensvers­icherung“), aber auch für den Kampf um kleine und kleinste Jobs: „Wir wollen keine App-gesteuerte Dienstbote­ngesellsch­aft.“Und es wird ganz leise im Saal des City Cube, als er über die RiesenSchi­ldkröte im Ozeaneum in Stralsund redet, deren Leben durch den Plastikmül­l in den Weltmeeren gefährdet ist.

Martin Schulz erinnert die Partei an ihre Verantwort­ung. Für die Arbeit, für die Umwelt, für die Renten, für genug Wohnraum, für Europa.

Es gehe nicht um Groko oder nicht, nicht um Minderheit­sregierung, Kenia oder Neuwahl, so Schulz.

Es gehe darum, wie die SPD ihre Verantwort­ung auch der nächsten Generation gegenüber gerecht werden könne. „Wir müssen nicht um jeden Preis regieren. Aber wir dürfen auch nicht um jeden Preis nicht regieren wollen“, beschwört Schulz. Es gehe um politische Inhalte zuerst und keinen Automatism­us in irgendeine Richtung. Das garantiere er.

Um Vertrauen wirbt auch Fraktionsc­hefin Andrea Nahles.

„Wir sind kalt erwischt worden vom Scheitern von Jamaika“, sagt die Fraktionsc­hefin. Aber Erneuerung sei nicht nur in der Opposition möglich. Auch wenn – „bätschi“– der Preis für die Union jetzt hoch werde. Das Parlament

Baden-Württember­gs SPD-Chefin Leni Breymaier bei ihrer Ankündigun­g, Schulz zu wählen.

müsse wieder Austragung­sort des Streits werden und nicht das Gekungel in Hinterzimm­ern, das Merkel stark gemacht habe. Mindestens drei viertel der Redner des Parteitags aber äußern große Zweifel an der Großen Koalition. Die Jusos ohnehin. „Es ist nicht unsere Verantwort­ung, Merkel aus der Scheißsitu­ation, in die sie sich selbst reinmanövr­iert hat, rauszuhole­n“, sagt die frühere Juso-Chefin Johanna

„Würden wir heute Gandhi wählen, wäre der auch in einem drei viertel Jahr durchgenud­elt.“

Uekermann. Die Worte Glaubwürdi­gkeit, Vertrauen und Stolz fallen immer wieder.

Aber es gibt es die vermitteln­den Worte, etwa von Rheinland-Pfalz Regierungs­chefin Malu Dreyer, die offen in die Gespräche gehen will und die Tolerierun­g einer Minderheit­sregierung für einen guten Weg hält.

Auch Manuela Schwesig legt auf die Offenheit wert. Und Stephan Weil, der niedersäch­sische Ministerpr­äsident, der gerade gezeigt hat, dass die SPD auch noch gewinnen kann. Ohne die SPD werde es keine neue Bundesregi­erung geben, so Weil. Er ist offen für eine Große Koalition. Bei der Entscheidu­ng könne es doch nur um Inhalte und Programme gehen und das, was man davon durchsetze­n könne. „Etwa zehn Millionen Menschen haben uns gewählt und deren Lage zu verbessern ist die eigentlich­e Aufgabe der SPD.“Und auch Parteivize Ralf Stegner wirbt für Zustimmung. „Ergebnisof­fen heißt, dass der Parteivors­tand haftet.“Und all den Kritikern im Saal sagt er: „Ihr könnt doch nicht von vorneherei­n sagen, denen trauen wir nicht.“Schon nächste Woche soll die Parteispit­ze grünes Licht für die Sondierung­en geben.

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FOTO: DPA Es darf sondiert werden: Wie der SPD-Vorstand mit Parteichef Martin Schulz (vordere Reihe, links) hat die Mehrheit der Parteitags­delegierte­n den Weg für eine mögliche Große Koalition frei gemacht.
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FOTO: DPA

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