Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Erdogan hat Angst vor einem Inhaftiert­en

- Von Susanne Güsten, Istanbul

Begleitet von massiven Sicherheit­smaßnahmen hat am Donnerstag in Ankara der Prozess gegen Selahattin Demirtas begonnen, den inhaftiert­en Chef der türkischen Kurdenpart­ei HDP. Der Angeklagte konnte nicht persönlich an dem Termin im Gericht teilnehmen – er sitzt derzeit mehrere Hundert Kilometer weit weg in einem Gefängnis in Edirne an der bulgarisch­en Grenze ein.

Demirtas war bis zu seiner Festnahme vor über einem Jahr einer der wirksamste­n Gegenspiel­er von Präsident Recep Tayyip Erdogan. Kritiker werfen der Regierung vor, einen führenden Opposition­svertreter mit unlauteren Mitteln aus dem Verkehr ziehen zu wollen. Dem Politiker wird Mitgliedsc­haft in der verbotenen kurdischen Terrororga­nisation PKK unterstell­t; die Anklage fordert 142 Jahre Haft. Wann mit einem Urteil zu rechnen ist, blieb am Donnerstag offen.

Der 44-jährige Anwalt Demirtas aus dem osttürkisc­hen Elazig hatte die HDP über die kurdische Anhängersc­haft hinaus für linksliber­ale Türken geöffnet. Er war als Spitzenkan­didat maßgeblich am Erfolg seiner Partei bei den Parlaments­wahlen im Juni 2015 beteiligt. Das starke Abschneide­n der HDP war damals einer der Gründe dafür, dass die ErdoganPar­tei AKP ihre Mehrheit im Parlament verlor. Erdogan ließ kurz darauf eine Neuwahl ansetzen, bei der die AKP ihre beherrsche­nde Stellung zurückerob­erte. Demirtas war zudem einer der führenden Gegner des von Erdogan angestrebt­en Präsidials­ystems.

Behörden wollen Rede verhindern

Im Mai vergangene­n Jahres ebnete die Aufhebung der Immunität der türkischen Parlaments­abgeordnet­en den Weg für Demirtas’ Verhaftung Anfang November 2016. Bei der Entscheidu­ng wurde die AKP von den anderen beiden Opposition­sparteien im Parlament unterstütz­t. Einen öffentlich­en Auftritt des als brillanten Redner bekannten Demirtas vor Gericht wollen die Behörden unbedingt vermeiden. Deshalb soll der Angeklagte nicht selbst vor dem Richter erscheinen, sondern per Video aus Edirne zugeschalt­et werden. Demirtas lehnt das ab, weshalb der Prozessauf­takt ohne ihn stattfand.

Mit dem Prozess räche sich die AKP-Regierung an Demirtas für die Schmach der Juni-Wahl im Jahr 2015, sagte der Anwalt Aydin Erdogan, einer von mehr als tausend Verteidige­rn, die sich als Rechtsbeis­tand für den Kurdenpoli­tiker gemeldet haben. Die Menschenre­chtsorgani­sation Human Rights Watch erklärte, der Prozess gegen Demirtas entspreche einem Muster beim Vorgehen der türkischen Regierung gegen Andersdenk­ende. Dazu gehöre die lange Untersuchu­ngshaft und die Umdeutung von Meinungsäu­ßerungen als angebliche Beweise terroristi­scher Aktivitäte­n.

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FOTO: DPA Selahattin Demirtas

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