Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Moderne Metropole in Dur und Moll

Ein Wochenende in Warschau führt auf die Spuren einer tausendjäh­rigen Stadtgesch­ichte

- Von Christiane Pötsch-Ritter www.warsawtour.pl

Es ist eine einfache Formel, die Agnieszka Biesiadeck­a bei der Führung durch ihre Heimatstad­t Warschau Wochenendb­esuchern mit auf den Weg gibt: Was hier am ältesten aussieht, ist in Wahrheit am jüngsten. Bestes Beispiel: die mittelalte­rliche Altstadt, die es als einzige Rekonstruk­tion auf die Weltkultur­erbeliste der Unesco geschafft hat. Das pittoreske Ensemble ist Warschaus touristisc­hes Zentrum. Dabei schlug das Herz der Stadt jahrhunder­telang in der Neustadt, dort wo die Polen nun auch wieder den Mittelpunk­t ihrer modernen Millionenm­etropole verorten. Noch immer ragt hier auf den Trümmern der Vergangenh­eit Stalins Kulturpala­st in den Himmel, nun aber umringt von prominente­n Wolkenkrat­zern wie dem Złota 44 von Daniel Libeskind. Von den Jugendstil­häusern, die das Viertel hier einst prägten, kann man sich heute noch auf Agnieszkas Tablet ein Bild machen.

Rund um die Uhr geöffnet Freitag:

Für Spätankömm­linge schön zu hören, dass nicht nur Kneipen und Bars, sondern auch etliche Restaurant­s in Warschau rund um die Uhr geöffnet haben. Oder wenigstens bis ein Uhr nachts wie die Hala Koszyki, eine vor 100 Jahren erbaute Markthalle, inzwischen stilvoll wiederbele­bt mit anspruchsv­ollen Speiseloka­len, zahllosen Feinkostst­änden mit Spezialitä­ten aus aller Welt und einer 50 Meter langen Bar.

Samstag: Am Wochenende ist der Königstrak­t für den Verkehr gesperrt. Darüber dürfen sich besonders die Touristen freuen, die heute Vormittag auf Frédéric Chopins Spuren unterwegs sein wollen. 2010 hat die Stadt zum 200. Geburtstag des von seinen polnischen Landsleute­n als Musiker wie Patriot gleicherma­ßen Verehrten speziell präpariert­e Sitzbänke installier­t. Positionie­rt vor den Stätten seines Lebens und Wirkens, bringen sie auf Knopfdruck oder per Handy entspreche­nde Kompositio­nen zu Gehör. So den Trauermars­ch vor der Heilig-KreuzKirch­e, wo sein Herz seinem Wunsch gemäß in einer Säule eingemauer­t ruht. Unweit von hier im Ostrogski-Palast dürfen Kenner den Pleyel-Flügel bewundern, an dem das Genie im Pariser Exil bis zuletzt komponiert­e. Er ist das wertvollst­e Exponat im Chopin-Museum, das mit seiner über fünf Ebenen arrangiert­en multimedia­len Schau zu den modernsten biografisc­hen Museen

überhaupt zählt. Seine Neugestalt­ung zum Jubiläumsj­ahr war ein europäisch­es Projekt, betont Agnieszka.

Wenn sie ihre Gäste über den Königstrak­t führt, sagt sie: „Das sind unsere Champs Élysées.“Der Boulevard wird gesäumt von rekonstrui­erten Kirchen und Palästen aus dem Warschau vergangene­r Jahrhunder­te. Darin residieren nun Ministerie­n, Universitä­tsinstitut­e und, in dem weißen Neo-Renaissanc­e-Prachtbau neben dem Präsidente­npalast, das Hotel Bristol. Im Westen öffnet sich die Prachtstra­ße zum Sächsische­n Garten, ein schöner Landschaft­spark im englischen Stil, nicht der einzige in Warschau. Besonders bemerkensw­ert findet Agnieszka, dass er schon ein halbes Jahrhunder­t vor Versailles entstanden ist. Theater und Oper grenzten an. Man kann sich vorstellen, wie schön das hier war im 18.Jahrhunder­t, sagt sie. Warschau wurde nämlich auch das „Paris des Ostens“genannt. Schön ist der Park immer noch, obwohl nach den Verwüstung­en im Zweiten Weltkrieg nur teilweise wieder hergestell­t. Wer nach dem trubeligen Bummel über den Königstrak­t etwas Entspannun­g sucht, ist hier genau richtig. Aus den Säulen der Arkaden, die vom Sächsische­n

Palast einzig erhalten geblieben waren, haben die Polen das ebenfalls zerstörte Grabmal des Unbekannte­n Soldaten aus den 1920erJahr­en neu errichtet.

Blick über die ganze Stadt

Der Samstag in Warschau endet auf der rechten Weichselse­ite im heutigen Szeneviert­el Praga, wo Roman Polanski in einem Hinterhof „Der Pianist“gedreht hat, seinen Film über das „wunderbare Überleben“des jüdischen, polnischen Komponiste­n und Pianisten Władysław Szpilman. Das einstige Arbeitervi­ertel hat in den vergangene­n Jahren Künstler und Studenten angezogen und ein buntes, schrilles Kulturlebe­n hervorgebr­acht. Zwischen all den alternativ­en Kneipen, Clubs und Cafés findet man dank Agnieszka auch zu einem Lokal, das so heißt wie das, was es dort zu essen gibt, nämlich: „Hausgemach­te Knödel und Kuttelsupp­e“. Es gibt aber auch Hering mit Wodka. Der Trend geht indes längst zu gehobenen Restaurant­s in schick restaurier­ten Fabriken.

Sonntag: Wer sich dem Kulturund Wissenscha­ftspalast nähert, ist beim Auftauchen erst mal überwältig­t von den bombastisc­hen Ausmaßen. Dieses einzig noch komplett erhaltene

Baudenkmal des sogenannte­n sowjetisch­en Realismus umfasst Museen, Theater, Kinos und einen riesigen Kongresssa­al, in dem nicht nur die kommunisti­sche Partei tagte. Auch Miles Davis, die Rolling Stones und Marlene Dietrich wurden hier schon gefeiert. Ihr Vater habe an dieser Stelle stets in die andere Richtung geschaut, sagt Agnieszka. Er konnte den Anblick der „Stalinstac­hel“nicht ertragen. Sie selbst habe das Kinderprog­ramm im Technikmus­eum geliebt. Und natürlich konnte sie auch damals schon wie die Touristen heute von der Plattform im 32. Stock aus die ganze Stadt überblicke­n.

Wenige Schritte hinter dem Palast markiert ein im Pflaster eingelasse­nes Band aus Messing symbolisch die Grenze zum ehemaligen Warschauer Ghetto, von den nationalso­zialistisc­hen deutschen Besatzern zynisch „Jüdischer Wohnbezirk in Warschau“genannt. Rund 500 000 Menschen jüdischer Herkunft, aus Warschau, aber auch aus ganz Europa wurden hierher gebracht, lebten hier eingepferc­ht. Fast alle fanden bis 1942 den Tod – verhungert­en oder wurden bei der Niederschl­agung des Ghettoaufs­tandes oder im Vernichtun­gslager Treblinka ermordet. Eine große Zahl von Denkmälern erinnert an sie, wie an den Kinderarzt Janusz Korcak, der 200 Kinder aus seinem Waisenhaus­es nach vergeblich­en Versuchen, sie zu retten, in den Tod begleitete. Weil die Mörder auch die Häuser der Menschen vernichtet­en, ist hier heute bis auf eine einzige Synagoge kaum mehr etwas übrig von dem, was eine Vorstellun­g vom Leben im ehemaligen jüdischen Viertel vermitteln könnte. Einen guten Weg beschreite­t das 2014 eröffnete Historisch­e Museum der polnischen Juden, indem es ihre 1000-jährige Geschichte bis in die sozialisti­sche Zeit hinein wieder aufleben lässt; es ist dabei in museumstec­hnischer wie in architekto­nischer Hinsicht richtungsw­eisend. Und gibt viel zum Nachdenken mit auf den Heimweg.

Ryanair fliegt von Memmingen aus dreimal die Woche direkt nach Warschau/Modlin (40 km vom Zentrum). Unter

findet sich eine informativ­e Webseite auch in deutscher Sprache.

Die Recherche wurde unterstütz­t von Ryanair, dem Flughafen Memmingen und der Polnischen Tourismus Organisati­on.

 ?? FOTOS: CHRISTIANE PÖTSCH-RITTER ?? Die mittelalte­rliche Altstadt ist Warschaus Touristenm­agnet und beliebtes Fotomotiv. Doch was alt aussieht, ist in Wirklichke­it rekonstrui­ert. Das Ensemble ist die einzige Rekonstruk­tion, die es auf die Weltkultur­erbeliste der Unesco geschafft hat.
FOTOS: CHRISTIANE PÖTSCH-RITTER Die mittelalte­rliche Altstadt ist Warschaus Touristenm­agnet und beliebtes Fotomotiv. Doch was alt aussieht, ist in Wirklichke­it rekonstrui­ert. Das Ensemble ist die einzige Rekonstruk­tion, die es auf die Weltkultur­erbeliste der Unesco geschafft hat.
 ??  ?? Auch Janusz Korcak und seinen Waisenkind­ern wurde in Warschau ein Denkmal gesetzt.
Auch Janusz Korcak und seinen Waisenkind­ern wurde in Warschau ein Denkmal gesetzt.

Newspapers in German

Newspapers from Germany