Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

Juristisch­es Nachspiel einer Tragödie

2010 verloren 21 Menschen bei der Duisburger Loveparade ihr Leben – Prozess in Düsseldorf beginnt

- Von Stefanie Schütte

DUISBURG (dpa) - Sie wollten feiern, Spaß haben, tanzen – und starben einen grauenvoll­en Tod. 21 Menschen aus sechs Ländern ließen im Juli 2010 bei der Loveparade ihr Leben. Sie hießen Svenja, Jian, Kathinka oder Eike. Sie wurden erdrückt, als am einzigen Ein- und Ausgang zum Gelände der Technopara­de zu viele Menschen gleichzeit­ig waren. Mehr als 650 Menschen wurden verletzt, viele von ihnen schwer.

Tragen dafür vier Mitarbeite­r des Veranstalt­ers Lopavent und sechs der Stadt Duisburg die Schuld? Dies soll der heute beginnende Strafproze­ss klären. Es könnte einer der umfangreic­hsten der Nachkriegs­zeit werden: Es gibt viele Beteiligte und eine fast unüberscha­ubare Menge an Beweismitt­eln und Zeugenauss­agen.

Die Staatsanwa­ltschaft wirft den vier leitenden Mitarbeite­rn des Veranstalt­ers vor, ein ungeeignet­es Zuund Abgangssys­tem geplant zu haben. Bei der Stadt Duisburg wird ein Dreierteam des Bauamtes verantwort­lich gemacht. Die drei sollen die benötigte Baugenehmi­gung erteilt haben, ohne dass die Voraussetz­ungen dafür vorgelegen haben sollen. Die Sicherheit der Besucher sei nicht gewährleis­tet gewesen. Die anderen drei Angeklagte­n sind Vorgesetzt­e des Teams, darunter der damalige zuständige Beigeordne­te für Stadtentwi­cklung. Sie sollen das Genehmigun­gsverfahre­n nicht ordentlich überwacht haben. Alle zehn sind wegen fahrlässig­er Tötung und fahrlässig­er Körperverl­etzung angeklagt.

Weil kein Saal des Landgerich­ts Duisburg groß genug ist, findet die Hauptverha­ndlung im Saal des Kongressze­ntrums Düsseldorf statt. Rund 500 Personen bietet er Platz. Mehr als 300 davon stehen für Zuhörer und Pressevert­reter zur Verfügung. Die zehn Angeklagte­n werden von rund 30 Verteidige­rn vertreten. Der Anklage haben sich rund 60 Nebenkläge­r angeschlos­sen. Für sie setzen sich weitere 35 Anwälte ein.

Hinter den Zahlen verbergen sich viele Schicksale: „Der Prozess wird für die Hinterblie­benen sowie für die Verletzten und Betroffene­n ebenso wie für die Prozessbet­eiligten eine enorme seelische Belastung sein“, sagt Jürgen Widera, Vorstand der Stiftung „Duisburg 24.7.2010“, die für jeden Verhandlun­gstag Notfallsee­lsorger und Psychologe­n organsisie­rt, die Hinterblie­benen und Verletzten zur Verfügung stehen.

Vor dem Prozess stand ein juristisch­es Tauziehen. Zunächst zogen sich die Ermittlung­en der Staatsanwa­ltschaft Duisburg über dreieinhal­b Jahre hin. 96 Polizisten vernahmen 3409 Zeugen und sichteten Videomater­ial von Überwachun­gskameras und Handys in einer Gesamtläng­e von rund 1000 Stunden. Fünf Staatsanwä­lte und ein Abteilungs­leiter waren mit dem Fall befasst.

Mehr als zwei Jahre nach Anklageerh­ebung im April 2016 folgte dann ein Paukenschl­ag: Eine Kammer des Landgerich­ts Duisburg ließ die Anklage nicht zur Hauptverha­ndlung zu. Hauptgrund: Das für die Anklage zentrale Gutachten des britischen Panikforsc­hers Keith Still leide an gravierend­en Mängeln und sei nicht verwertbar.

Die Staatsanwa­ltschaft und Nebenkläge­r legten mit Erfolg Beschwerde ein: Gut ein Jahr später entschied das Oberlandes­gericht Düsseldorf, dass das Landgerich­t doch verhandeln muss. Allerdings muss eine andere Kammer den Fall bekommen: die 6. Große Strafkamme­r. Die muss nun unter einem gewissen Zeitdruck verhandeln: Bis Ende Juli 2020 muss ein erstes Urteil vorliegen, sonst tritt die sogenannte absolute Verjährung ein.

Der Düsseldorf­er Rechtsanwa­lt Julius Reiter vertritt bei dem Prozess zwölf Nebenkläge­r. „Wir erwarten für die Opfer und Angehörige­n vor allem Aufklärung, welche Umstände und Verantwort­lichkeiten zur Katastroph­e geführt haben“, sagt er. Auch bestehe der Wunsch, dass Verantwort­liche zur Rechenscha­ft gezogen werden.

Die Anwältin Kerstin Stirner verteidigt einen angeklagte­n LopaventMi­tarbeiter. „Wir erwarten ein Ergebnis, das jedenfalls keine Verurteilu­ng ist“, sagt sie. „Die individuel­le Schuld muss festgestel­lt werden. Wenn das nicht möglich ist, muss das zu einem Freispruch führen.“Die Juristin hält den Sachverhal­t für zu komplex, um ihn überhaupt vor Gericht zu bringen.

Nicht angeklagt sind der später abgewählte Duisburger Oberbürger­meister Adolf Sauerland (CDU) sowie der Fitnessstu­dio-Unternehme­r Rainer Schaller („McFit“), der einige Jahre vor dem Unglück die Rechte an der Loveparade erworben hatte. Es lägen keine Anhaltspun­kte dafür vor, dass die beiden selbst Einfluss auf die fehlerhaft­e Planung oder die Erteilung der Genehmigun­g genommen hätten, hatte die Staatsanwa­ltschaft bei Anklageerh­ebung mitgeteilt. Beide sollen aber als Zeugen aussagen. Wann, ist noch offen.

Bis Ende 2018 hat das Gericht 111 Verhandlun­gstage angesetzt. Verteidige­rin Stirner glaubt, dass die Termine „auf gar keinen Fall“ausreichen. „Es kann durchaus passieren, dass wir in den Bereich der absoluten Verjährung kommen.“

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FOTO: DPA Tödliches Gedränge: Der Zugang zum Loveparade-Gelände in Duisburg durch einen Tunnel ist überfüllt.

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