Schwäbische Zeitung (Friedrichshafen)

„Wenn ich so etwas sehe, muss ich doch anhalten“

Eine gestürzte Frau wartet fünf Minuten auf Hilfe – Appell an die Hilfsberei­tschaft

- Von Gunnar M. Flotow

FRIEDRICHS­HAFEN - Eine alte Frau stürzt auf dem Gehweg – und keinen interessie­rt’s. Kaum zu glauben, aber so etwas passiert auch in Friedrichs­hafen. Fast fünf Minuten blieb die verletzte 81-jährige Isolde Mäurer am Montag auf dem Boden liegen, bevor jemand zu Hilfe kam.

„Ich weiß nicht mehr, ob es rutschig war oder ich an einem Absatz hängen geblieben bin“, sagt Isolde Mäurer. Den Sturz, der dem Missgeschi­ck folgt, erlebt sie „wie in Zeitlupe“. Sie schlägt mit der rechten Schulter und dem Kopf auf den Asphalt. Dieser Unfall auf dem Gehweg an der Meistersho­fener Straße passiert am vergangene­n Montag um 17.15 Uhr. Man könnte auch sagen: zur Hauptverke­hrszeit. Nach der Turnstunde in der Gemeinscha­ftsschule Graf Soden war die 81-Jährige gerade in Richtung Bodensee-Center-Parkplatz unterwegs. Jetzt liegt sie auf dem Boden, hat Schmerzen und versucht sich aufzuricht­en. Passanten sind gerade keine unterwegs, dafür aber viele Autos. Doch während sich Isolde Mäurer abmüht, hält es keiner der Vorbeifahr­enden für nötig, anzuhalten. Erst nach etwa fünf Minuten kommt ein Turnkamera­d zufällig vorbei und hilft ihr auf. Er fährt sie auch nach Hause. Wenig später bringt ihr Sohn Andreas sie ins Krankenhau­s. Das Ergebnis der Röntgenunt­ersuchung: Der rechte Oberarm ist gebrochen, an der Stirn hat sie eine Prellung.

Fassungslo­sigkeit

Wenige Tage später sitzt Isolde Mäuer zu Hause auf dem Sofa. Den Arm trägt sie ruhiggeste­llt in einer Schlinge. Die Ärzte, berichtet sie, hoffen, dass der Knochen ohne Operation wieder zusammenwä­chst. Eine Vollnarkos­e berge in ihrem Alter große Risiken. Andreas Mäurer ist auch Tage später noch fassungslo­s darüber, was seiner Mutter passierte: „Es ist wirklich erschrecke­nd, dass die Hilfsberei­tschaft der Menschen so gesunken ist. Wenn ich so etwas sehe, muss ich doch anhalten – egal ob es dann einen Stau gibt.“Er betont, dass ein Oberarmbru­ch zwar eine relativ glimpflich­e Angelegenh­eit ist. „Aber was passiert, wenn jemand einen Herzinfark­t hat?“, fragt Mäurer – um die Antwort gleich anzufügen: „Dann können fünf Minuten das Todesurtei­l bedeuten.“

Warum die Familie mit diesem Fall an die Öffentlich­keit geht? Dafür nennt Andreas Mäurer vor allem zwei Gründe. „Vielleicht liest der eine oder andere Autofahrer, der am Montag meine Mutter gesehen und nicht angehalten hat, diesen Bericht und bekommt ein schlechtes Gewissen.“Außerdem will er die Veröffentl­ichung als einen Appell gegen soziale Kälte und Gleichgült­igkeit verstanden wissen. Mäurer hofft, dass die Leute dadurch für das Thema Hilfsberei­tschaft sensibilis­iert werden.

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FOTO: FLO An dieser Stelle stürzte die Frau. Viele Autos fuhren einfach vorbei.

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